Das Teufelslabyrinth
Augen und wischte sich mit dem Ärmel die schweißnasse Stirn ab.
Und hörte Schritte.
Er wirbelte herum, aber da war nichts.
Wieder hörte er Schritte, und wieder fuhr er herum und starrte in die Finsternis. Jetzt verstummten die Schritte, und plötzlich erfüllte eine schreckliche Stille den Tunnel, die ihm genauso den Hals zuschnürte wie die modrige Luft.
Beruhige dich! Geh einfach weiter.
Unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft gelang es ihm, gegen diese panische Angst anzukämpfen.
Und jetzt hörte er auch wieder Stimmen.
Aber waren das die Stimmen von seiner Mutter und dem Führer? Oder war das etwas anderes, etwas, das dicht hinter ihm lauerte und sich unsichtbar machte, sobald er sich umdrehte?
Er drängte die schaurigen Gedanken aus seinem Bewusstsein, konzentrierte sich ausschließlich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und betete, dass er in die richtige Richtung lief und sich nicht unbemerkt in der Dunkelheit umgedreht hatte.
In den Mauerwänden zu beiden Seiten des schmalen Gangs waren kleine Nischen aus dem Gestein gehauen,
und jede dieser Krypten enthielt die Gebeine der Toten, die dort vor so vielen Jahrhunderten bestattet worden waren. Ryan begann die Nischen beim Gehen zu zählen, um nicht an die phantomartigen Schritte zu denken, die er immer noch hinter sich hörte.
Und vor ihm.
Und um ihn herum.
Schritte, genau wie die, die er in jener Nacht gehört hatte, als er den beiden Priestern in die finstere Krypta tief in dem unterirdischen Labyrinth gefolgt war.
Obschon die Krypten hier anders waren. Viele von ihnen waren mit uralten Steinmetzarbeiten verziert, und darauf richtete Ryan jetzt seine Aufmerksamkeit, um nicht an dieses Unsichtbare zu denken, das er so deutlich zu spüren glaubte.
Eine der Glühbirnen leuchtete ein wenig heller als die anderen, und in ihrem Schein entdeckte Ryan an der Rückwand einer der Nischen ein bekanntes Symbol.
Es war die runde Form, die er sofort wiedererkannte.
Das gleiche Zeichen, das Pater Sebastian mit Kreide auf den Boden um Jeffrey Holmes’ Sarkophag gezeichnet hatte, war hier für immer in Stein verewigt worden.
Das Labyrinth.
Ryan begann am ganzen Leib zu zittern. Das musste ein Alptraum sein - so etwas konnte unmöglich real sein. Erneut hörte er Schritte hinter sich, diesmal jedoch in unmittelbarer Nähe. Er machte sich bereit, herumzufahren und sich dem zu stellen, was immer da in der Dunkelheit lauern mochte, doch noch ehe er sich umdrehen konnte, griff etwas aus der Dunkelheit nach ihm.
Es war ein Arm, der sich von hinten um seinen Hals schlang und ihn an jeder Bewegung hinderte.
Eine raue Hand griff nach seiner Brust, riss ihm das Hemd auf, dann spürte er, wie eine Faust sich um das Kruzifix schloss - seines Vaters Kruzifix -, das er seit diesem Morgen vor sechs Monaten um den Hals trug, als er von Sebastian Sloane ausgeschickt worden war, den Papst zu töten.
Ein kurzer, heftiger Ruck.
Die Silberkette zerriss.
Und eine leise Stimme sprach in sein Ohr: »Zur Erlösung Christi.«
Ryan stürzte zu Boden. Sein Angreifer floh, die Schritte entfernten sich rasch und verstummten kurz darauf.
Einen Moment lang herrschte absolute Stille, ehe sich ein einzelnes Wort aus der Dunkelheit löste: »Ryan?«
Erst als er die Stimme seiner Mutter vernahm, begriff Ryan, dass er laut aufgeschrien haben musste, als sich der Arm um seinen Hals geschlungen hatte.
Und jetzt sah er sie und den Führer vor sich in dem düsteren Gang auftauchen.
Instinktiv fasste er sich an die Brust, fühlte die leere Stelle, wo seit dem Morgen im Boston Common das silberne Kreuz seines Vaters so schwer auf sein Herz gedrückt hatte.
Und alles, was er dabei empfand, war eine unglaubliche Erleichterung.
Es war vorbei. Die ganze Geschichte war endgültig vorbei.
Und dieses Kruzifix - woher es auch immer stammen mochte - würde jetzt dorthin zurückkehren, wo es in Wirklichkeit hingehörte, davon war Ryan überzeugt.
Nun hatte es nicht länger etwas mit ihm zu tun und auch nicht mit der Liebe seines Vaters für ihn.
Diese Liebe, das wusste er, würde ihn sein ganzes Leben lang begleiten.
»Ryan?«, rief seine Mutter abermals.
Ryan stand auf, klopfte sich den Staub von den Hosenbeinen, und als seine Mutter vor ihm auftauchte, war es, als ob nichts geschehen wäre. »Lass uns nach Hause fahren«, wisperte er. »Ich möchte nach Hause.«
Die Originalausgabe THE DEVIL’S LABYRINTH
erschien 2007 bei Ballantine Books,
a division of Random House,
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