Das Teufelsspiel
Sachs’ Atem langsam und gleichmäßig wurde, empfand er ein seltsames Gefühl in der Brust, wo keines sein sollte. Er runzelte die Stirn und dachte im ersten Moment, er habe sich getäuscht. Dann fragte er sich erschrocken, ob das womöglich der Anfang einer Dysregulation oder etwas noch Schlimmeres war. Doch schließlich wurde ihm klar, dass es sich um etwas völlig anderes handelte, etwas, das nicht mit den Nerven, Muskeln oder Organen zusammenhing. Auch jetzt blieb er Wissenschaftler und verglich die Empfindung mit seinen Erfahrungswerten: Als Geneva Settle dem Anwalt der Bank mutig die Stirn geboten hatte, hatte Rhyme sich ähnlich gefühlt. Ebenso bei der Lektüre von Charles Singletons Brief über jene furchtbare Julinacht vor so vielen Jahren, als der ehemalige Sklave das Gasthaus Potters’ Field aufgesucht hatte, um Gerechtigkeit zu erlangen. Und bei dem Gedanken daran, wie leidenschaftlich Charles für die Bürgerrechte eingetreten war.
Dann begriff Rhyme plötzlich, was er empfand: Es war schlicht und einfach Stolz. Er war auf Geneva und ihren Vorfahren stolz gewesen, und nun war er stolz auf seine eigene Leistung. Indem er sein Training eingestellt und sich am heutigen Abend selbst getestet hatte, war Lincoln Rhyme dem Schrecklichen, dem Unmöglichen entgegengetreten. Dabei spielte es keine Rolle, ob er die Finger rühren konnte oder nicht; der Stolz basierte auf einer anderen, unleugbaren Errungenschaft: Er hatte Ganzheit erlangt, die gleiche Art Ganzheit, von der Charles geschrieben hatte. Rhyme wusste nun, dass nichts und niemand – kein Politiker, kein Mitbürger und auch kein verkrüppelter Leib – ihn zu einem Dreifünftelmann machen konnte; es war allein seine Entscheidung, ob er sich selbst als vollwertigen oder partiellen Menschen ansah und sein Leben danach ausrichtete.
Alles in allem war diese Erkenntnis vermutlich genauso widersprüchlich wie Rhymes zurückgewonnene Fähigkeit, seine rechte Hand ein wenig bewegen zu können. Aber das war egal. Er dachte an seinen Beruf: Wie ein winziger Farbpartikel zu einem Wagen führte, der auf einen Parkplatz verwies, wo eine schwache Fußspur vor einer Tür endete, an der eine Faser hing, die zu einem weggeworfenen Jackett passte, auf dessen Manschettenknopf sich ein Fingerabdruck fand – an der einzigen Stelle, die der Täter nicht abgewischt hatte.
Woraufhin er am nächsten Tag Besuch vom Sondereinsatzkommando erhielt.
Der Gerechtigkeit wurde Genüge getan, ein Opfer gerettet, eine Familie wieder vereint. Alles nur dank eines winzigen Farbpartikels.
Kleine Siege – so hatte Dr. Sherman es genannt. Kleine Siege … Manchmal waren sie alles, was man sich erhoffen konnte, dachte Lincoln Rhyme, der immer schläfriger wurde.
Aber manchmal waren sie auch alles, was man brauchte.
Anmerkung des Verfassers
Autoren sind nur so gut wie die Freunde und Kollegen um sie herum, und ich habe das große Glück, von einem wahrhaft wunderbaren Ensemble umgeben zu sein: Will und Tina Andersen, Alex Bonham, Louise Burke, Robby Burroughs, Britt Carlson, Jane Davis, Julie Reece Deaver, Jamie Hodder-Williams, John Gilstrap, Cathy Gleason, Carolyn Mays, Emma Longhurst, Diana Mackay, Tara Parsons, Carolyn Reidy, David Rosenthal, Marysue Rucci, Deborah Schneider, Vivienne Schuster, Brigitte Smith und Kevin Smith.
Besonderer Dank gebührt wie immer Madelyn Warcholik.
Die Leser, die nun in ihren Reiseführern blättern und gern einen Spaziergang durch Gallows Heights unternehmen möchten, muss ich leider enttäuschen. Ich habe mich zwar bemüht, das Leben im Manhattan des neunzehnten Jahrhunderts möglichst zutreffend zu schildern, und es gab an der Upper West Side tatsächlich eine Reihe solcher Dörfer, die von der sich ausbreitenden Stadt am Ende verschluckt wurden, doch Gallows Heights und die ruchlosen Taten, die ich dort beschreibe, sind allesamt Schöpfungen meiner Fantasie. Der unheimliche Name diente meinem Zweck, und ich dachte mir, dass Boss Tweed und seine Kumpane der Tammany Hall bestimmt nichts dagegen hätten, für ein paar weitere Verbrechen verantwortlich gemacht zu werden. Oder um es mit Thompson Boyd zu sagen: »Der einzige Unterschied ist die Größe.«
Weitere Kostenlose Bücher