Das Schwein war’s: Kriminalroman (German Edition)
Kapitel 1
Aaron McCloud war nach Irland an die Gestade der Westküste in die Grafschaft Kerry gereist, um sich in der Einsamkeit der Natur in aller Ruhe zu bemitleiden. Die sanften Hügel sollten ihm Trost, das unbezähmbare Meer sein Zeuge sein. Nicht lange, und er würde das Haus seiner Tante betreten, das hoch oben auf einer Landspitze gen Westen blickte. Dort wollte er sich aus tiefster Seele seinem Schmerz hingeben.
Er saß im Bus und schaute aus dem Fenster. Das schon vor langer Zeit in Parzellen aufgeteilte Weideland Irlands glitt an ihm vorüber; die aus dem Erdreich geborgenen Steine waren zu Trennmauern aufgeschichtet, so dass man den Eindruck einer dreidimensionalen Landkarte gewann. Die Grenzlinien waren tiefschwarz, die einzelnen Weideflächen hatten die Form eines Rechtecks oder Rhombus, und wie um Abwechslung ins Bild zu bringen, ab und an auch die eines Quadrats oder Dreiecks.
Am oberen Hang eines sonnenbeschienenen Hügels graste eine Schafherde und bewegte sich langsam westwärts. Fast konnte man meinen, die Schafe schufen systematisch einen Trampelpfad zum Meer. Eng zusammengedrängt wirkten sie wie eine eigentümliche Wolke, zogen, unentwegt Grünzeug rupfend, vorwärts; für wen sie eine breite Spur hinterließen, kümmerte sie wenig, Hauptsache, sie konnten den Magen befriedigen. Etwas weiter höher, an die drei Meter vom Rand der Herde entfernt, stand ein Schäfer, ein Mann. Vielleicht war es sogar ein Junge; er trug einen Pullover mit breiten Querstreifen – verschiedene Rottöne, grün, blau, goldfarben und mehr zum Bund hin schwarz. In der Hand hielt er einen Krummstab, einen richtigen Hirtenstabwie aus alten Zeiten. Überlieferter Brauch. Die ganze Geschichte eines Landes offenbarte sich ihm. Doch das schwärmerische Träumen währte nur wenige Augenblicke. Der Hirtenstab entpuppte sich als zusammengeklappter Regenschirm, den der Mann jetzt an einen Felsen lehnte, um aus einer Gürteltasche einen Fotoapparat zu ziehen und eins der Schafe zu fotografieren. Er war genauso wenig ein Schäfer wie Aaron. Bestenfalls handelte es sich um einen Touristen, schlimmstenfalls um einen Regierungsbürokraten.
Der Bus – bequemer und moderner als die Greyhounds und Trailways bei ihm zu Hause – brauste nach Aarons Schätzung mit achtzig Sachen über die schmale und kurvenreiche Landstraße, die sich durch Kerry schlängelte. Am späten Nachmittag würde er das Dorf erreichen mit ein paar Häusern und Dockerys Pub. Von dort wollte ihn seine Tante abholen und ihn den Rest der Wegstrecke zu sich und dem alten, aus Feldsteinen gebauten Haus fahren, wo er als Kind so manchen Sommer verbracht hatte, denn sowohl Mutter wie Vater, die gerade geschieden waren, empfanden ihn als lästig und schoben ihn gerne ab.
Er hing an dem Haus. Es stand mitten im Feld unweit der Steilküste, die zum Meer abfiel. Der Uferstreifen unten endete abrupt an einem Felsen, der aus dem Wasser aufragte und den Zugang zur dahinterliegenden Bai versperrte. Immer, wenn er bei seiner Tante und deren Familie weilte, hatte ihn die Felswand geärgert, verwehrte sie ihm doch den Zugang zu dem Sandstrand in der Bucht. Sie trennte ihn von den anderen Kindern, die dort schwammen, im flachen Wasser tollten und sich gegenseitig im Sand einbuddelten. Die Burgen und Schutzwälle, die sie bauten, hätten, wenn sie nicht nur ihrer Phantasie entsprungen wären, mit Sicherheit dem plündernden Feind getrotzt, der seinerzeit von Norden eingefallen war und seine Vorfahren um ein Haar ins Meer getrieben hatte.
Jetzt aber sehnte er sich nach der Felswand. Sein Uferstück würde menschenleer sein. Niemand würde seine Einsamkeit stören, von seiner Zurückgezogenheit Notiz nehmen – einzig und allein die See würde ihn bemerken. Natürlich würde es Möwen geben, auch Brachvögel. Er würde ihr Geschrei hören und bewundern, wie sie mit ausgebreiteten Schwingen selbst den geringsten Lufthauch nutzten, um ihre Kreise zu ziehen. Vielleicht waren auch Kormorane da, und wenn er Glück hatte, tauchte sogar ein einsames Schiff am Horizont auf. Böen und Stürme würde es geben, tosende Wogen, Gewitterwolken und Donner. Blitze würden am Himmel zucken. Winde würden um die Klippen heulen und – wieder mit ein wenig Glück – Gestein würde bersten und in großen Felsbrocken ins Meer stürzen. Nichts würde ihn erschüttern; inmitten der Naturgewalten würde er, Aaron McCloud, am Ufer dahinschreiten, allein in seiner Zurückgezogenheit und Einsamkeit.
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