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Das Todeshaus

Das Todeshaus

Titel: Das Todeshaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Nicholson
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er sich gerade einmal im zweiten Stockwerk befand, musste er sich am Fenstersims festhalten, um das Schwindelgefühl unter Kontrolle zu halten.
    Anna stand am Zaun und streichelte ein Pferd. Der Sonnenuntergang färbte den Horizont golden. Das sanfte Licht machte sie zu einem wunderschönen Engel, einer Märchenprinzessin, die über dem Gras dahinschwebte. Die grünen, hügeligen Felder, der schimmernde Himmel, der funkelnde See am Ende der Wiese und die scheinbar schwerelose Frau, alles erschien, als wäre es in einem Traum eingeschlossen.
    Und laut seinem Vater waren Träume eine gottverdammte Verschwendung kostbaren Tageslichts.
    Mason ging ins Badezimmer. Obwohl die Armaturen so kunstvoll verziert waren wie der Rest des Hauses, waren die sanitären Anlagen primitiv. In der Ecke stand eine gusseiserne Badewanne. Das Waschbecken war aus Marmor. Darüber befanden sich glänzende Wasserhähne aus Chrom und ein umrahmter Spiegel. Er stellte sich vor die Keramiktoilette und verrichtete seine Notdurft. Dabei bemerkte er den kleinen Ausgleichsbehälter, der hoch oben an der Wand angebracht war. Die Rohrleitungen hinter der Wand hüpften und bebten, als er spülte. Er wusch sich die Hände am Waschbecken und sah dabei in den Spiegel, welcher trotz der Kälte des Wassers beschlug.
    Er wischte ihn mit dem Ärmel seines Pullovers ab, doch der Nebel blieb. Missbilligend blickte er in sein trübes Spiegelbild. Das Gesicht im Spiegel schien zeitverzögert zu reagieren. Es war das traurige und müde Gesicht eines verurteilten Häftlings.
    Als er ins Zimmer zurückkehrte, lag sein Werkzeug quer über das ganze Bett verstreut. Es schien beinahe so, als ob es ihn verspottete, ihn dazu herausforderte, es in die Hand zu nehmen und zu scheitern. Er konnte sich nicht erinnern, es aus der Tasche genommen zu haben. War er wirklich derart verkrampft und verwirrt?
    Finster schaute Korbans Porträt auf ihn hinab. Das Lächeln, das er sich eingebildet hatte, war verschwunden. Korban war nur ein weiterer Auftraggeber, ein fordernder und kaltherziger Kritiker. Ein Beobachter, der nicht in den kreativen Prozess eingebunden, jedoch allzu gern bereit war, etwas zu beurteilen, das niemand außer dem Erschaffer selbst verstehen konnte. Einfach nur ein weiteres Arschloch mit einer Meinung.
    Mason ging auf sein Werkzeug zu, magisch angezogen von dessen Macht. Er beugte sich herunter, berührte die Kanneliermesser, Meißel, Hammer und Stichel, fand Trost darin, ihre Kanten und ihr Gewicht zu spüren. Sie sehnten sich nach Arbeit, sie brauchten Masons Finger, um ihrer Welt Form verleihen zu können. Und Mason brauchte sie genauso. Eine symbiotische Abhängigkeit, die so viel schaffen wie auch zerstören würde.
    Er drehte Korbans Porträt den Rücken zu und polierte die Werkzeuge mit einem Tuch aus Gemsenleder, bis sie im Schein des Feuers glühten.

 
     
     
    9. KAPITEL
     
    Der Oktober war ein Jäger, seine Beute die grüne Bestie des Sommers. Wie ein widerwilliger Habicht, mit weit ausgebreiteten Flügeln, ausgefahrenen Krallen und suchenden, strengen Augen, zog der Wind über die Hügel. Unter ihrer goldenen, eisigen Haut erbebte die Erde angesichts des Lufthauchs, den der Flug des Habichts hervorrief. Der Morgen hielt seinen grauen Atem an. Jedes Blatt und jeder Grashalm zitterte vor Angst.
    Jefferson Spence schaute auf die Tasten der alten mechanischen Royal-Schreibmaschine hinunter. »Pferdezähne« wurden die Tasten genannt. Der Legende nach hatte George Washington Pferdezähne gehabt. Spence wusste, dass es Zeitverschwendung war, nach Ablenkungen zu suchen, die ihn vom Schreiben eines weiteren Satzes abhielten. Er starrte in die Flammen, die in der Laterne auf seinem Schreibtisch vor sich hin dümpelten.
    Dann schaute er nach oben in das Gesicht von Ephram Korban. Genau in diesem Zimmer hatte er vor zwanzig Jahren Die Jahreszeiten des Schlafes geschrieben, allen – vor allem seinen eigenen – Aussagen nach ein Meisterwerk. Alle seine nachfolgenden Romane konnten nicht daran anknüpfen. Aber vielleicht kam die Magie ja zurück.
    Worte waren magisch. Und vielleicht würde der alte Korban ja ein oder zwei Geheimnisse ausplaudern, ihm ein paar Weisheiten zuteil werden lassen, die er in all diesen Jahren dort oben an der Wand gewonnen hatte.
    »Was versuchst du mir zu sagen?«, fragte Spence das Porträt, wobei seine Stimme den gesamten Raum ausfüllte.
    Aus dem Badezimmer rief Bridget in ihrem lang gezogenen Georgia-Dialekt: »Was hast du

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