Das Todeshaus
Tiefen dieses Kellers finden würde, wenn sein Schaffen für immer im Verborgenen blieb, niemals bewundert und geschätzt werden würde? Natürlich würde seine Statue besser sein als dieses Gemälde hier, aber der Maler hatte ohne Zweifel Talent besessen. Die weichen Pinselstriche und die sanften Farben verrieten, dass hier ein echter Künstler am Werk gewesen war. Das cremefarbene Herrenhaus, die herrliche Pracht des nächtlichen Waldes, die feuchtnassen Sturmböen, alles war so verblüffend realistisch wiedergegeben.
Er ging noch näher an das Bild heran, nahm das Dach des Hauses ins Visier. Der Fleck auf dem Witwensteg erschien jetzt irgendwie heller und zog sich mehrere Zentimeter über die Leinwand. Mason starrte in den Nebel und blinzelte. Es waren Umrisse und Formen in dem Fleck zu erkennen. Er holte die Laterne vom Schreibtisch und leuchtete auf das Gemälde.
Mason zeichnete eine der Konturen mit seinem Finger nach. An dieser Stelle war der Fleck etwas dunkler, man hätte fast eine menschliche Gestalt darin vermuten können. Hinter der dicken hellen Linie, welche die Brüstung des Witwenstegs darstellen sollte, schwebten weitere Geschöpfe in der Luft. Menschen?
Menschen waren bei diesem Bild fehl am Platz. Schließlich stand das Haus im Mittelpunkt, dominierte das Gemälde. Menschen würden das gesamte Kunstwerk beschmutzen, wären eine ungeheure Beleidigung für das Auge des Betrachters. Hatte jemand die gleiche Beobachtung wie Mason gemacht und wollte diese Gestalten auf dem Dach verschwinden lassen? Oder hat der Künstler seinen Fehler vor Vollendung seiner Arbeit erkannt und versucht, ihn zu beheben, bevor die Farben getrocknet waren?
Miss Mamie wüsste das bestimmt, oder auch Lilith, die ja schließlich Interesse an dem Gemälde gezeigt hatte. Vielleicht würde man ihm erlauben, das Bild mit in sein Zimmer zu nehmen, damit er es neben dem Porträt von Korban aufhängen konnte. Ein Meister und sein Herrschaftsbereich.
Er lehnte das Bild wieder an den Schrank. Seine eigene Arbeit war jetzt wichtiger. So lautete der allererste Grundsatz eines Künstlers. Erst kommt die eigene Kreativität, alles andere kann warten.
Außerdem durfte er Mutter nicht enttäuschen, die ihm in diesem Moment zuschaute.
Mit der Stimme eines Ungeborenen sprach das Holz zu ihm. Mit Hammer und Meißel, mit scharfer Klinge und hungriger Seele, gab er Antwort.
39. KAPITEL
Adam traf Miss Mamie nach dem Frühstück im Studierzimmer. Sie saß in einem Korbstuhl, die Hände im Schoß gefaltet. Das dunkelgrüne, dekolletierte Kleid, das sie heute an hatte, gewährte tiefe Einblicke auf ihren Busen. Ihren Hals zierte statt einer Perlenkette ein schwarzes Kropfband aus Seide.
Unter ihren Händen lugten einige Stückchen Holz hervor, die auf einem Tuch ausgebreitet waren. In der einen Hand hielt sie ein Messer, an dessen Klinge noch Holzspäne klebten. Adam beobachtete, wie sie einen dicken Stock der Länge nach beschnitt und die abgeschälte Rinde um etwas wickelte, das aussah wie ein Puppenrumpf. Der dunkle Kopf der Puppe hatte Ähnlichkeit mit einer verschrumpelten Frucht, die Gesichtszüge entstellt und vertrocknet.
In der hintersten Ecke des Studierzimmers, weit weg vom Kamin und den hohen Fenstern, durch die das Sonnenlicht hindurchspähte, saßen die Abramovs mit ihrem Cello und ihrer Geige. Sie spielten ein Menuett in Andante, das an Mozart erinnerte. Die satten Töne vibrierten auf Adams Haut.
Er hatte gegenüber von Miss Mamie auf dem Sofa Platz genommen, lauschte andächtig den Klängen. Grazil glitten die Finger der Musiker über die Saiten, entlockten ihnen gekonnt die verschiedensten Akkorde und Intervalle, bis sie ihre Melodie schließlich unter dem Beifall von Adam und Miss Mamie in feinster Harmonie ausklingen ließen.
»Bravo«, rief sie. »Reizend. Ephram Korban wäre hoch erfreut.«
Als die Abramovs ein weiteres Stück anstimmten, beugte sich Adam zu Miss Mamie hinüber. »Wie geht es Ihnen heute?«
»Ganz gut, Mr. Andrews. Wie gefällt Ihnen mein kleines Hobby? Eine alte Tradition aus den Appalachen, von Ephram höchstpersönlich überliefert. Es heißt, wenn man ein Püppchen schnitzt, errichtet man ein Haus für eine verlorene Seele.«
»Geht bestimmt ganz schön auf die Hände.«
»Aber es entstehen dabei so reizende Geschenke. Was halten Sie von dieser hier?«
Sie hielt das knorrige Geschöpf hoch, das mit seinen verdrehten Gliedmaßen aus Holz ziemlich verkrüppelt aussah. Der
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