Palast der Stuerme
1. KAPITEL
„Es tut mir so leid, Liebes. Es sollte doch ein Urlaub für dich werden.“
„Bei Onkel Henri zu sein ist viel wichtiger, als einen Einkaufsbummel mit mir zu machen“, versicherte Claire ihrer Patentante. „Nur gut, dass das Krankenhaus uns noch rechtzeitig erreicht hat, bevor wir das Hotel verlassen haben.“
„Ja …“ Tiefe Sorgenfalten standen auf der Stirn von Susan Dupont. „Henri hat solche Anfälle schon öfter gehabt, aber …“
„Du musst zu ihm“, drängte Claire entschieden. Der zweite Ehemann ihrer Tante litt seit mehreren Jahren regelmäßig an Angina pectoris. Claire wusste, dass Susan ihre Sorge herunterzuspielen versuchte, weil sie Claire nicht verderben wollte, was als Geschenk für deren zweiundzwanzigsten Geburtstag gedacht war.
„In einer Stunde geht ein Flug zurück nach Paris. Ich könnte in der Maschine sitzen …“
„Du wirst in der Maschine sitzen“, berichtigte Claire bestimmt. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war erst sieben Uhr morgens. Vor knapp einer Stunde hatte der Anruf sie aus dem Schlaf gerissen, dabei schien es schon eine Ewigkeit her zu sein. „Ich helfe dir beim Packen und komme mit zum Flughafen.“
„Nein, Claire“, beharrte ihre Tante. „Ich will, dass du hierbleibst und den Tag genießt, so wie es geplant war. Du siehst so müde aus, Liebes“, fügte Susan mitfühlend hinzu. „Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun. Wenn ich doch nur Teddys Schulgeld übernehmen könnte …“
Das Thema hatten sie schon öfter besprochen, Susan kannte Claires Reaktion bereits. Henri war ein guter und fürsorglicher Ehemann, aber Susan war finanziell von ihm abhängig. Sie wussten beide, dass Susan Teddys Schulgeld nur hätte bezahlen können, wenn ihr Ehemann nichts davon erfuhr. Henri hatte volles Verständnis, dass Susan ihr Patenkind Claire ab und zu verwöhnen wollte, doch er sah nicht ein, weshalb er für das Schulgeld von Claires Bruder aufkommen sollte. Und Claire würde nie zulassen, dass Susan ihren Ehemann ihretwegen täuschte.
„Versprich mir, dass du dir einen schönen Tag machen wirst, mit Einkaufen und Bummeln“, bat Susan. „Das Hotelzimmer ist gebucht, ich sage unten an der Rezeption Bescheid, dass sie mir die Rechnung zuschicken sollen.“
Mit einem Lächeln gab Claire nach. Zwei Tage im Londoner Dorchester Hotel inklusive aller Spesen waren eine wunderbare Geburtstagsüberraschung ihrer Patentante gewesen. Und auch wenn nun der Einkaufsbummel in den teuren Läden ausfiel, den Susan ursprünglich geplant hatte, so würde sie keine Probleme haben, die Zeit zu nutzen. Sie würde Galerien und Museen besuchen, dann hatte sie Teddy auch etwas in ihrem nächsten Brief zu berichten. Außerdem … wenn sie wie Susan nach Hause zurückkehrte, würde sie nur in ihrem winzigen Apartment sitzen und Trübsal blasen.
Claire seufzte leise. Seit dem Tod ihrer Eltern war das Leben nicht einfach. Zehn Jahre Altersunterschied trennten die Geschwister, und Teddy war damals erst acht gewesen. Da die Eltern im Ausland arbeiteten, hatte er bereits zwei Jahre die exklusive und teure Privatschule besucht, auf der auch ihr Vater gewesen war. Claire hatte damals gerade mit dem Studium begonnen. Auch sie war zuvor auf dem Internat gewesen, die Eltern verdienten gut, und Claire hatte sich eigentlich niemals Gedanken darüber gemacht, wie es weitergehen würde.
Dann, innerhalb von sechs kurzen Monaten, war das sorgenfreie Leben des Teenagers zu einem abrupten Halt gekommen. Mit dem Tod der Eltern blieb das großzügige Gehalt aus, und außer einer kleinen Lebensversicherung hatte es keine Rücklagen gegeben. Es gab nicht einmal ein Haus zu verkaufen, denn der Arbeitgeber des Vaters hatte im Ausland das Domizil gestellt.
Der Familienanwalt war so behutsam wie möglich gewesen. Teddy würde die Schule verlassen müssen, hatte er Claire geraten. Die Lebensversicherung reiche gerade aus für ein kleines Haus und bescheidene monatliche Zahlungen. Ob nun richtig oder falsch, Claire hatte sich dennoch dagegen entschieden. Schule und Schulfreunde waren Teddys Welt. Ihn nach dem Tod der Eltern auch noch aus seiner gewohnten Umgebung zu reißen würde unabsehbare Folgen für ihn haben. Außerdem würde sie für die Betreuung des Bruders zahlen müssen, während sie arbeiten ging.
Also hatte sich Claire mit einem Teil des ausgezahlten Geldes die Ausbildung zur Sekretärin finanziert und den größten Teil für Teddys Schulgeld beiseitegelegt. Doch das Geld
Weitere Kostenlose Bücher