Das Tor des Suedens
Wasser hervor, und der Nebel war zu einer faulig stinkenden Brühe geworden, die sich wie ein dichter Schleier über die Eisscholle legte.
Olinga schrie entsetzt auf, als sie eine brennende Gestalt über die Wasserfläche auf sich zulaufen sah. Doch so plötzlich, wie sie gekommen war, so rasch löste sie sich auch wieder auf. Nun waren schemenhafte Gestalten zu sehen, die auf dem Wasser zu tanzen schienen und klagende Laute ausstießen. Sie kamen näher, und von ihnen ging eine Ausstrahlung aus, die sich schwer auf das Hirn legte und jeden klaren Gedanken unmöglich machte.
Sie stöhnten gequält auf. Alle bekamen rasende Kopfschmerzen, die immer unerträglicher wurden.
Nottr richtete sich keuchend auf, zog das Schwert und schlug auf die unheimlichen Gestalten ein, die ihn umtanzten. Er glaubte die Häscher zu erkennen, die ihn in Graf Corians Burg gefoltert hatten, dann waren Caer-Priester und Krieger in schwarzen Rüstungen zu sehen.
Olinga sah wieder ganz andere Gestalten: Der Große Alb sprang auf die Scholle, stieß schaurige Laute aus, die aus seinen schneckenhausartigen Ohren drangen; dann erblickte sie die Eismonstren, die mit ihren dünnen Armen nach ihr griffen und sie ins Wasser zerren wollten.
Sadagar schrie entsetzt auf, als er die dürre, halb verweste Runenkundige Fahrna in hundertfacher Ausfertigung sah. Ihr graues Gesicht mit der runzeligen Haut war verzerrt, Hautfetzen platzten über den Backenknochen auf, die spinnenartigen Arme schlugen auf ihn ein. Für Sadagar war ein Alptraum wahr geworden, denn in den vergangenen Wochen hatte er oft von Fahrna geträumt, die mit ihrem ausgemergelten Körper, der in Verwesung übergegangen war, auf ihn zukam, die Knochenhände auf seine Schultern presste, sich mit dem stinkenden Leib an ihn schmiegte und ihre von Maden zerfressenen Lippen ihm entgegenstreckte. Und in diesem Augenblick änderte sich das Gesicht der hundertfachen Fahrna, die ihn umringte. Die Haut bekam Risse, schälte sich vom Fleisch, und die Knochen kamen hervor; dann quollen die Augen aus den Höhlen und tanzten auf und ab, und in den leeren Augengruben krochen fingerdicke Maden und eklige Würmer umher.
Nottr schlug noch immer wie verrückt auf die schattenhaften Gestalten ein; Olinga versuchte die Arme abzuwehren, die sich in ihr Haar verkrallten, und Sadagar zitterte vor Grauen, als er mit ansehen musste, wie sich die unzähligen alten Weiber in Skelette verwandelten.
Sadagar begann zu ahnen, was hier in diesem Augenblick auf dem See vorging. Undeutlich erinnerte er sich an ein Gespräch mit Thonensen, in dem sie über Geister gesprochen hatten, die man selbst erschuf und die die Herrschaft über einen bekommen können. Offenbar wirkte der glatte See mit den ihn trichterförmig umgebenden Felswänden wie ein magischer Spiegel, der die eigenen Ängste verstärkte. Eine Art Gefühlsecho, das nicht abnahm, sondern anschwoll.
»Nottr, Olinga, hört mir zu!« schrie Sadagar. »Ich glaube, dass ich eine Möglichkeit gefunden habe, die Alptraumgeschöpfe zu besiegen. Was seht ihr?«
»Caer-Krieger!« keuchte Nottr.
»Die Eismonstren wollen mich in den See zerren!« schrie Olinga.
»Es ist so, wie ich es mir gedacht habe«, murmelte Sadagar. »Jeder von uns fürchtet sich vor anderen Dingen, und diese Ängste verstärken sich mit jedem Herzschlag, bis sie uns tatsächlich verschlingen werden. Wir müssen dagegen ankämpfen.«
»Und wie sollen wir das tun?«
»Denkt an schöne Dinge, an Erlebnisse, an die ihr euch gern erinnert.«
»Ich werde es versuchen«, brummte Nottr. Die Alptraumgestalten gingen noch immer auf ihn los. Es wurden ständig mehr.
»Schließt die Augen, das hilft sicher.«
Nottr schloss die Augen und stellte sich eine weite Steppe im Frühling vor. Überall blühten Blumen, es war wohlig warm, ein sanfter Wind strich über sein Gesicht, und sein Bauch war gefüllt mit köstlichen Speisen. Es war herrlich zu leben. Das Pferd galoppierte über die Steppe…
Olinga versuchte ihre angespannten Nerven mit der Erinnerung an einen Sonnenuntergang im letzten Sommer zu beruhigen. Die Jäger waren erfolgreich gewesen, alle waren vergnügt und zufrieden. Die Sonne war ein glühend roter Ball, der die Gipfel der Berge zum Brennen brachte und…
Sadagars Gedanken eilten zurück in eine Zeit, in der er noch ein Jüngling war, eine Zeit, in der sein Gesicht glatt und faltenlos gewesen war und sein lockiges Haar dicht. Damals hatte er ein Mädchen geliebt, das sein Begehren
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