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Das unvollendete Bildnis

Das unvollendete Bildnis

Titel: Das unvollendete Bildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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glücklich, alle waren freundlich zu mir; ich ging in die Schule, hatte viele Freundinnen und wusste gar nicht mehr, dass ich je einen anderen Namen gehabt hatte. Tante Louise hatte mir erklärt, Lemarchant sei mein kanadischer Name, und das kam mir völlig plausibel vor.»
    Sie reckte ihr energisches Kinn:
    «Schauen Sie mich an! Wie Sie mich hier sehen, würden Sie doch sagen: ‹Das ist ein Mädchen, dem es gut geht!› Bis zu einem gewissen Grade stimmt das auch. Ich habe Geld, ich bin gesund, ich bin ganz hübsch, ich kann das Leben genießen. Und als ich zwanzig war, hätte ich mit keinem Mädchen auf der Welt tauschen wollen. Aber ich fing an, Fragen zu stellen, mich nach meinen Eltern zu erkundigen. Wer sie waren. Ich wollte es wissen… Und schließlich, als ich einundzwanzig wurde, sagten sie mir die Wahrheit. Sie mussten es, denn da ich großjährig wurde, bekam ich das Verfügungsrecht über mein Geld und außerdem den Brief, den meine Mutter vor ihrem Tod an mich geschrieben hatte.»
    Sie blickte jetzt nicht mehr lebhaft drein, ihre Augen waren keine glühenden Kohlen mehr, sondern dunkle, trübe Teiche.
    «Und so erfuhr ich die Wahrheit: Meine Mutter war wegen Mordes verurteilt worden. Es war… entsetzlich… Und nun muss ich Ihnen noch etwas sagen: Ich hatte mich verlobt. Aber es hieß immer, wir müssten bis zu meiner Großjährigkeit warten. Jetzt weiß ich, warum.»
    Poirot rührte sich und unterbrach sie zum ersten Mal.
    «Und was sagte Ihr Verlobter?»
    «John? John sagte, das ändere nichts, wenigstens nicht für ihn. Wir seien John und Carla, und die Vergangenheit spiele keine Rolle.» Sie beugte sich vor. «Wir sind noch immer verlobt. Aber es spielt eine Rolle, für mich und auch für John… zwar nicht die Vergangenheit, aber die Zukunft.»
    Sie ballte die Fäuste. «Wir wollen Kinder haben, verstehen Sie? Beide wollen wir Kinder, aber wir möchten unsere Kinder nicht derart belasten.»
    «Wir alle haben unter unseren Vorfahren jemanden, der etwas auf dem Kerbholz hat», warf Poirot ein.
    «Das stimmt, aber im Allgemeinen weiß man nichts davon. Wir aber wissen es, und es liegt noch nicht lange genug zurück. Manchmal sieht John mich so merkwürdig von der Seite an. Stellen Sie sich vor, wenn wir verheiratet sind und wir bekommen Streit miteinander… und ich würde sehen, dass er mich so anschaut, dass er überlegt… »
    «Wie ist Ihr Vater umgekommen?», fragte Poirot.
    Die Antwort war klar und bestimmt:
    «Er wurde vergiftet.»
    «Hm.» Poirot schien bestürzt.
    Nach kurzem Schweigen sagte das Mädchen sachlich:
    «Gott sei Dank, Sie sind ein vernünftiger Mensch. Sie begreifen, was es für mich bedeutet. Sie versuchen nicht, es zu bemänteln und mich zu beschwichtigen.»
    «Was es für Sie bedeuten muss, begreife ich sehr gut», sagte Poirot, «nicht aber das, was Sie von mir wollen.»
    «Ich möchte John heiraten», erwiderte Carla schlicht, «und ich möchte Kinder haben, mindestens zwei Knaben und zwei Mädchen. Und das sollen Sie mir ermöglichen.»
    «Sie meinen… ich soll mit Ihrem Verlobten sprechen? Unsinn, das ist ja lächerlich. Sie wollen etwas ganz anderes von mir. Sagen Sie mir, was Sie von mir wollen.»
    «Hören Sie, Monsieur Poirot: Ich beauftrage Sie hiermit, einen Mordfall aufzuklären.»
    «Wie bitte…?»
    «Jawohl, ein Mord ist ein Mord, ob er gestern verübt wurde oder vor sechzehn Jahren.»
    «Aber meine liebe junge Dame…»
    «Einen Moment, Monsieur Poirot. Sie wissen noch nicht alles. Da ist noch ein wichtiger Punkt.»
    «Ja?»
    «Meine Mutter war unschuldig!»
    Hercule Poirot rieb sich die Nase und murmelte:
    «Natürlich… ich verstehe…»
    «Es ist keine Sentimentalität. Da ist dieser Brief. Sie schrieb ihn vor ihrem Tod. Er sollte mir bei meiner Großjährigkeit ausgehändigt werden. Sie hat ihn nur geschrieben, damit ich sicher sein kann. Es steht darin, dass sie es nicht getan hat; sie sei unschuldig, ich könne dessen sicher sein.»
    Poirot betrachtete nachdenklich das lebendige junge Gesicht, die ernsten Augen und sagte langsam: « Tout de meme… »
    Carla lächelte.
    «Nein, so war meine Mutter nicht. Sie halten es für eine Lüge… eine fromme Lüge? Hören Sie, Monsieur Poirot, es gibt Dinge, die ein Kind gut begreift. Ich kann mich nur noch dunkel an meine Mutter erinnern, aber ich weiß genau, was für ein Mensch sie war. Sie sagte nie eine Lüge, nicht einmal eine fromme Lüge. Wenn ich zum Zahnarzt gehen sollte oder wenn mir ein Splitter

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