Die Gauklerin
Erstes Buch
Flucht ins Ungewisse
(August 1620 – April 1626)
1
Der Feierabend, den der Turmbläser soeben verkündet hatte, versprach keine Abkühlung. Bleigrau lastete der Himmel über der Stadt, die ungewöhnliche Hitze an diesem Spätsommernachmittag machte die Menschen reizbar.
Agnes stellte ihren Einkaufskorb auf den Boden und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Den Weg zum Schuhmacher oben im Gänsbühl würde sie morgen früh erledigen, jetzt zog es sie nur noch nach Hause. Ein Trommelwirbel ließ sie aufhorchen: Vor dem Rathaus tänzelte ein prächtig geschmückter Schimmel unter seinem Reiter, der die scharlachrote Schärpe eines Offiziers trug.
Neugierig trat sie näher. Das Gesicht war unter dem breitkrempigen Hut nicht auszumachen, doch die beiden Trommler rechts und links des Reiters wirkten blutjung. Jetzt ließen sie ihre Schlegel schneller und schneller über das Fell wirbeln, und binnen kurzem füllte sich der Platz vor dem Rathaus mit Neugierigen: mit Lehrlingen und Gesellen, Gesinde und Knechten, mit Schulbuben, Tagedieben und Taugenichtsen. Kaufleute, Bürgersfrauen und andere Leute, die Besseres zu tun hatten, ließen sich wenige blicken – schließlich wusste jeder, was es mit dem verwegen aussehenden Reiter auf sich hatte: Er war gekommen imAuftrag des Generalleutnants in bayerischen Diensten, Johann Tserclaes Freiherr von Tilly, und hatte die bedeutsame Aufgabe, ein Regiment Knechte aufzurichten. Auf ein Zeichen hin hielten die Trommlerbuben inne, und der Reiter ließ seinen dröhnenden Bass erschallen:
«Bürger der Stadt Ravensburg, Männer und Burschen!»
Weiter kam er nicht. Zwei riesige Köter waren mit dem tiefen Knurren hungriger Wölfe in die Menge gerast: Vorneweg ein heller mit langem, struppigem Fell und einem Schweinskopf zwischen den Lefzen, ihm dicht auf den Fersen der andere, schwarz und nicht weniger groß. Genau vor dem Reiter kamen sie zum Stehen. Mit glühendem Blick, das Fell gesträubt, verteidigte der Helle seine Beute. Sein Angreifer fletschte nur kurz die Zähne, dann warf er sich auf ihn. Im nächsten Augenblick hatten sich die beiden zu einem Knäuel verbissen und wälzten sich unter hässlichem Gekläffe im Dreck. Der Schimmel stieg steil in die Luft, erschreckt wichen die Umstehenden zurück, irgendwer schrie nach einem Knüppel. Schon färbte sich der Nacken des hellhaarigen Hundes blutrot unter den Bissen des schwarzen, sein Jaulen gellte über den Platz. Immer wieder schnappte er nach der Kehle des anderen, doch er schien hoffnungslos unterlegen.
«Wenn Ihr Soldat seid, warum schießt Ihr nicht auf die Scheißtölen?», brüllte einer der Burschen dem Werber zu, der vergeblich versuchte, sein Pferd zu beruhigen. Endlich erschienen im Laufschritt zwei Stadtwächter und schlugen mit ihren Stöcken auf die Tiere ein, bis sie voneinander abließen und sich winselnd aus dem Staub machten – der eine blutüberströmt, der andere mit gebrochenem Hinterlauf. Zurück blieb der zerbissene Schweinskopf, der aus leeren Augenhöhlen in den grauen Himmel stierte.
Laute Trommelschläge ließen die aufgeregte Menge verstummen.
«Nun denn», der Offizier räusperte sich, um seiner Stimme wieder Nachdruck zu verleihen. «Ihr wisst, dass in Böhmen diegottlosen und rebellischen Stände unsere christliche Ordnung mit Füßen treten und ihr Land von einem unrechtmäßig gewählten König, dem Ketzer Friedrich von der Pfalz, regieren lassen. Nun, da das hochherzige Angebot unserer Majestät des Kaisers, die böhmische Krone freiwillig zurückzugeben, ausgeschlagen wurde, muss die Ordnung mit Waffen wiederhergestellt werden. Wer also Manns genug ist, mit Leib und Seele für Gott, die Christenheit und unseren Kaiser zu kämpfen, der möge sich in den nächsten Stunden auf der Kuppelnau zum Eintragen in die Musterrolle einfinden. Als heldenmütige Herausforderung, als Christenpflicht –»
In diesem Moment entdeckte Agnes in der Menschenmenge ihren jüngeren Bruder Matthes. Ihre Blicke trafen sich für einen Sekundenbruchteil, dann senkte Matthes verlegen den Kopf und trat einen Schritt zurück, um sich hinter ein paar hoch gewachsenen Burschen zu verbergen.
Sie hatte genug gesehen. Energisch nahm sie ihren Korb unter den Arm und eilte in Richtung Liebfrauen. Vor dem Elternhaus, einem schmalen dreistöckigen Steinbau hinter der Kirche, traf sie auf ihren Vater. Missmutig erwiderte der Ravensburger Schulmeister Jonas Marx den Gruß seiner Tochter, öffnete die
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