Stadt der Piraten
Ernst Vlcek
STADT DER PIRATEN
»Rast!« verkündete Coerl O'Marn mit erhobener Hand. Während die Geräusche verrieten, dass seine Reiter absaßen, drängte der Ritter seinen Braunen durch das Unterholz zum Ufer des Goldenen Sees. Der schweigsame Hüne, der im Kampf ergraut war, blickte durch das Visier seines Helmes auf das dunkle Gewässer hinaus, über das sich die Abenddämmerung senkte.
In den kahlen Wipfeln der Bäume war ein anschwellendes Rauschen, das Zeugnis vom Zunehmen des Sturmes ablegte. Aber während die Baumkronen geschüttelt wurden, blieb die Oberfläche des Sees ganz ruhig. Keine Welle kräuselte sich, das Wasser war so glatt wie ein Spiegel. Wie ein schwarzer Spiegel, in dem man die Mauer der dichten Uferwälder kaum sehen konnte.
Der Ritter nahm mit bedächtiger Bewegung seinen Helm ab, dass der Wind in seiner grauen Mähne spielen konnte, und er mochte sich beim Anblick des großen schwarzen Gewässers, das bis an den hohen Wall der Elvenbrücke heranreichte, fragen, warum man es den Goldenen See nannte.
Die ersten Schneeflocken wurden durch die Luft gewirbelt und verschmolzen mit der unbewegten Wasseroberfläche.
Ein Geräusch in seinem Rücken ließ den Caer-Ritter aus seinen Betrachtungen schrecken. Gleich darauf tauchte neben ihm ein Reiter auf, der einen weiten, silbrigen Umhang trug und einen spitzen Helm, der mit Knochen verziert war. Es war Drundyr.
»Was befiehlst du da, Ritter?« fragte Drundyr mit seiner hohen Stimme, die O'Marn unangenehm in den Ohren klang.
»Was verleitet dich dazu, die Sicherheit des Titanenpfades zu verlassen und am Ufer dieses gefährlichen Gewässers zu lagern?«
»Es steht ein Unwetter bevor«, sagte O'Marn. »Auf dem Titanenpfad wären wir den Unbilden des Wetters ausgesetzt gewesen. Der Wald bietet uns vor dem Sturm Schutz.«
»Und was ist mit dem mörderischen Getier, das in diesem See haust?« rief Drundyr mit sich überschlagender Stimme. Dabei blieb sein wie gläsern wirkendes Gesicht maskenhaft starr. Der Drundyr beherrschende Dämon hatte auch in Momenten höchster Erregung Gewalt über ihn.
»Was ist damit?« fragte der Ritter zurück.
»Du weißt, welche Gefahren der Goldene See birgt, O'Marn«, sagte Drundyr wütend. »Die Elven haben einst dieses Gewässer als zusätzlichen Schutz für ihren Wall mit furchtbaren Ungeheuern belebt. Es gibt genügend Geschichten über Reisende, die sich zu nahe an das Ufer herangewagt haben und Opfer dieser Bestien wurden. Wären wir auf dem Titanenpfad geblieben, hätten wir die Elvenbrücke noch vor Einbruch des Unwetters überwinden und in Sicherheit gelangen können.«
»Das sagst du, aber du bist kein Krieger«, versetzte Coerl O'Marn. »Du solltest bei deinen magischen Praktiken bleiben, doch beginne ich daran zu zweifeln, ob du genügend von deinem Handwerk verstehst. Eigentlich habe ich erwartet, dass du mit einem Wetterzauber den Sturm von uns fernhältst. Da du es nicht getan hast, mussten wir den Titanenpfad verlassen.«
»Du kannst mich nicht ungestraft beleidigen«, wetterte Drundyr. »Dafür wirst du noch büßen.«
Coerl O'Marn war vom Pferd gestiegen und bis dicht ans Ufer getreten. Als er sich jetzt zu der spiegelglatten Wasseroberfläche hinunterbeugte, wurde diese auf einmal aufgewühlt. Der sonst furchtlose Ritter wich unwillkürlich zurück, als das Wasser plötzlich von zuckenden und sich schlängelnden Körpern gepeitscht wurde.
Der See wurde zuerst nur in der Nähe des Ritters von den sich wie rasend gebärdenden Seeungeheuern aufgewühlt. Aber die Raserei griff blitzartig um sich, bis die gesamte Oberfläche des Gewässers zu kochen schien.
Es ging alles so schnell, dass der Ritter keine Einzelheiten erkennen konnte. Er sah da und dort gepanzerte Schädel mit hervorquellenden Augen, sich ringelnde Körper, Krallen und Flossen und gezackte Schwänze im schäumenden Wasser.
Und dann war alles vorbei. So plötzlich der Spuk begonnen hatte, so rasch legte er sich auch wieder. Der See beruhigte sich, die letzten Ausläufer der Wellen rollten noch gegen das Ufer, dann lag die Wasseroberfläche glatt und bewegungslos.
Coerl O'Marn hatte sich nach der ersten Überraschung schnell gefasst .
Nicht aber der Caer-Priester. »War dir das nicht Warnung genug?« kreischte er. »Lass das Lager abbrechen und auf die andere Seite der Elvenbrücke verlegen!«
»Das ist nicht nötig«, sagte O'Marn und blickte dabei Drundyr geradewegs in die Augen. Er war einer der wenigen, die dem Blick der
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