Das Urteil
wo du bist, ich brauche dich nicht! Du denkst, du hast
noch die Kraft, hierherzukommen, und hältst dich bloß zurück,
weil du so willst. Daß du dich nicht irrst! Ich bin noch immer
der viel Stärkere. Allein hätte ich vielleicht zurückweichen müs-
sen, aber so hat mir die Mutter ihre Kraft abgegeben, mit deinem
Freund habe ich mich herrlich verbunden, deine Kundschaft habe
ich hier in der Tasche!«
›Sogar im Hemd hat er Taschen!‹ sagte sich Georg und glaubte,
er könne ihn mit dieser Bemerkung in der ganzen Welt unmöglich
machen. Nur einen Augenblick dachte er das, denn immerfort ver-
gaß er alles.
»Häng dich nur in deine Braut ein und komm mir entgegen! Ich
fege sie dir von der Seite weg, du weißt nicht, wie!«
Georg machte Grimassen, als glaube er das nicht. Der Vater
nickte bloß, die Wahrheit dessen, was er sagte, beteuernd, in
Georgs Ecke hin.
»Wie hast du mich doch heute unterhalten, als du kamst und
fragtest, ob du deinem Freund von der Verlobung schreiben sollst.
Er weiß doch alles, dummer Junge, er weiß doch alles! Ich schrieb
ihm doch, weil du vergessen hast, mir das Schreibzeug wegzuneh-
men. Darum kommt er schon seit Jahren nicht, er weiß ja alles
hundertmal besser als du selbst, deine Briefe zerknüllt er ungelesen
in der linken Hand, während er in der rechten meine Briefe zum
Lesen sich vorhält!«
Seinen Arm schwang er vor Begeisterung über dem Kopf. »Er
weiß alles tausendmal besser!« rief er.
»Zehntausendmal!« sagte Georg, um den Vater zu verlachen, aber
noch in seinem Munde bekam das Wort einen todernsten Klang.
»Seit Jahren passe ich schon auf, daß du mit dieser Frage kämest!
Glaubst du, mich kümmert etwas anderes? Glaubst du, ich lese
Zeitungen? Da!« und er warf Georg ein Zeitungsblatt, das irgend-
wie mit ins Bett getragen worden war, zu. Eine alte Zeitung, mit
einem Georg schon ganz unbekannten Namen.
»Wie lange hast du gezögert, ehe du reif geworden bist! Die Mut-
ter mußte sterben, sie konnte den Freudentag nicht erleben, der
Freund geht zugrunde in seinem Rußland, schon vor drei Jahren
war er gelb zum Wegwerfen, und ich, du siehst ja, wie es mit mir
steht. Dafür hast du doch Augen!«
»Du hast mir also aufgelauert!« rief Georg.
Mitleidig sagte der Vater nebenbei: »Das wolltest du wahrschein-
lich früher sagen. Jetzt paßt es ja gar nicht mehr.«
Und lauter: »Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher
wußtest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigent-
lich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch! – Und
darum wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!«
Georg fühlte sich aus dem Zimmer gejagt, den Schlag, mit dem
der Vater hinter ihm aufs Bett stürzte, trug er noch in den Ohren
davon. Auf der Treppe, über deren Stufen er wie über eine schiefe
Fläche eilte, überrumpelte er seine Bedienerin, die im Begriffe war,
hinaufzugehen, um die Wohnung nach der Nacht aufzuräumen.
»Jesus!« rief sie und verdeckte mit der Schürze das Gesicht, aber
er war schon davon. Aus dem Tor sprang er, über die Fahrbahn
zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das Geländer fest, wie ein
Hungriger die Nahrung. Er schwang sich über, als der ausgezeich-
nete Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern
gewesen war. Noch hielt er sich mit schwächer werdenden Hän-
den fest, erspähte zwischen den Geländerstangen einen Autoom-
nibus, der mit Leichtigkeit seinen Fall übertönen würde, rief leise:
»Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt«, und ließ sich
hinabfallen.
In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendli-
cher Verkehr.
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