Ausgeliehen
Ian war nie glücklich, es sei denn,
es gab einen Prolog
Ich könnte der Bösewicht dieser Geschichte sein. Sogar jetzt ist das schwer zu sagen.
In der Bibliothek, inmitten der vielen, vielen Bücher über das alte Ägypten, war das Bild, das die Kinder am meisten liebten, jenes, auf dem der Gott des Todes das Herz eines toten Mannes gegen eine Feder aufwiegt. Es gibt zumindest einen Trost: Eines Tages werde ich meine Schuld verstehen.
Ich habe alle Menschen hinter mir gelassen, die ich kannte. Ich habe eine andere Bibliothek gefunden, eine mit Eichenholz getäfelte mit schmiedeeisernen Geländern. Eine Collegebibliothek, in der die Leser wissen, nach welchen Büchern sie suchen. Ich scanne ihre Bücher ein, und sie nehmen mich durch ihren Koffeindunst kaum wahr. Nichts ist wie in meiner alten Bibliothek mit dem fleckigen Teppich und den Backsteinwänden, aber die Bücher sind die gleichen – die gleichen Buchrücken, die gleichen Signaturen auf gelben Etiketten. Ich weiß, was in ihnen steht. Sie flüstern mir ihr Urteil zu.
Die Ausreißer, die Kidnapper, sie schauen von den Regalen auf mich herab und beanspruchen mich für sich. Sie sagen mir, ich solle mich auf den Weg zum Territorium machen, glauben, dass ich für die Hölle bestimmt bin, genauso wie sie. Sie sagen, ich sei der größte Lügner, den sie sich denken können. Und dieser alte Lustmolch, der Schmetterlingsfänger, der schwatzende Grabscher, rührt vom hohen, schmalen NAB-Regal herab in seinem Wodka-Ananas-Cocktail, lässt mich seine Worte verdrehen. (Bei einer Bibliothekarin können Sie immer auf einen extravaganten Prosastil zählen): Meine Damen und Herren Geschworene, Beweisstück Nummer eins ist, was ich neidete, was ich dachte, in Ordnung bringen zu können. Ergötzen Sie sich an diesem Büchergefängnis.
Bevor das alles begann, sagte ich zu Rocky, ich würde meine Bücher eines Tages nach ihren Protagonisten alphabetisch ordnen. Jetzt ist mir klar, wo ich dann stehen würde: Hull, gemütlich zwischen Huck und Humbert. Aber eigentlich sollte ich dieses Buch unter Drake einordnen, für Ian, den Jungen, den ich gestohlen habe, denn egal, wer der Bösewicht ist, ich bin nicht der Held dieser Geschichte. Ich bin noch nicht einmal der Gegenstand dieses Gebets.
1
Märchenstunde
Jeden Freitag um 16:30 Uhr versammelten sie sich, hockten im Schneidersitz auf dem braunen Zottelteppich, zupften seine Krusten von Dreck und Glitzer und Sekundenkleber ab und lehnten sich an die Bilderbuchregale.
Ich hatte fünf Stammgäste, und ein paar von ihnen wären sieben Mal in der Woche gekommen, wenn sie gekonnt hätten. Ian Drake kam mit Windpocken und mit einem gebrochenen Bein. Er kam sogar, wenn er wusste, dass die Lesung abgesagt worden war. Er saß da und las sich selbst laut vor. Und jede Woche gab es zwei oder drei Extragäste, deren Eltern vermutlich einen Babysitter brauchten. Sie quälten sich durch Kapitel 8 und 9 eines Buches, dem sie nicht folgen konnten, zogen Fäden aus ihren Socken und schoben sie sich zwischen die Zähne.
In jenem Herbst vor fünf Jahren hatten wir Matilda halb durchgelesen. Ian kam vor der Lesung auf mich zugaloppiert, wir beschäftigten uns schon seit vier Wochen mit diesem Buch.
»Ich habe meiner Mutter erzählt, dass wir wieder Kleines Haus in der Prärie lesen. Ich glaube nicht, dass sie für Matilda viel übrighat. Sie mochte noch nicht einmal Der fantastische Mr. Fox .« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Klaro?«
Ich nickte. »Wir möchten deiner Mutter keine Sorgen machen.« Wir waren noch nicht beim magischen Teil angekommen, aber Ian hatte schon weitergelesen, heimlich, vor das Regal von Roald Dahl gekauert. Er wusste, wie die Geschichte weiterging.
Er sprang davon, erst den Gang mit Biographien hinunter, dann zwischen den Regalen mit den wissenschaftlichen Werken wieder zurück, mit schräg geneigtem Kopf, um zu lesen, was auf den Buchrücken stand.
Loraine tauchte neben mir auf – Loraine Best, die Leiterin der Bibliothek, die Gott sei Dank nichts von unserer geheimen Absprache mitbekommen hatte – und beobachtete die ersten Kinder, die sich auf dem Teppich versammelten. An manchen Freitagen kam sie hier herunter, nur um die Mütter anzulächeln und ihnen zuzunicken, wenn sie ihre Kinder brachten, als würde sie etwas von Kinderbüchern verstehen.
Als ob nicht die Hälfte der Kinder anfangen würde zu weinen, wenn sie ihnen Grünes Ei mit Speck – Das Allerbeste von Dr. Seuss vorliest,
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