Das Urteil
Franz Kafka
DAS
URTEIL
Franz Kafka
DAS URTEIL
Eine Geschichte
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lit era scripta manet
Franz Kafka
(03.07.883 - 03.06.924)
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. Ausgabe, Juli 2004
© eBOOK-Bibliothek 2004 für diese Ausgabe
E s war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr.
Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, saß in seinem
Privatzimmer im ersten Stock eines der niedrigen, leichtge-
bauten Häuser, die entlang des Flusses in einer langen Reihe, fast
nur in der Höhe und Färbung unterschieden, sich hinzogen. Er
hatte gerade einen Brief an einen sich im Ausland befindlichen
Jugendfreund beendet, verschloß ihn in spielerischer Langsamkeit
und sah dann, den Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, aus dem
Fenster auf den Fluß, die Brücke und die Anhöhen am anderen
Ufer mit ihrem schwachen Grün.
Er dachte darüber nach, wie dieser Freund, mit seinem Fort-
kommen zu Hause unzufrieden, vor Jahren schon nach Rußland
sich förmlich geflüchtet hatte. Nun betrieb er ein Geschäft in
Petersburg, das anfangs sich sehr gut angelassen hatte, seit langem
aber schon zu stocken schien, wie der Freund bei seinen immer sel-
tener werdenden Besuchen klagte. So arbeitete er sich in der Fremde
nutzlos ab, der fremdartige Vollbart verdeckte nur schlecht das seit
den Kinderjahren wohlbekannte Gesicht, dessen gelbe Hautfarbe
auf eine sich entwickelnde Krankheit hinzudeuten schien. Wie er
erzählte, hatte er keine rechte Verbindung mit der dortigen Kolonie
seiner Landsleute, aber auch fast keinen gesellschaftlichen Verkehr
mit einheimischen Familien und richtete sich so für ein endgülti-
ges Junggesellentum ein.
Was wollte man einem solchen Manne schreiben, der sich offen-
bar verrannt hatte, den man bedauern, dem man aber nicht helfen
konnte. Sollte man ihm vielleicht raten, wieder nach Hause zu kom-
men, seine Existenz hierherzuverlegen, alle die alten freundschaftli-
chen Beziehungen wiederaufzunehmen – wofür ja kein Hindernis
bestand – und im übrigen auf die Hilfe der Freunde zu vertrauen?
Das bedeutete aber nichts anderes, als daß man ihm gleichzeitig, je
schonender, desto kränkender, sagte, daß seine bisherigen Versu-
che mißlungen seien, daß er endlich von ihnen ablassen solle, daß
er zurückkehren und sich als ein für immer Zurückgekehrter von
allen mit großen Augen anstaunen lassen müsse, daß nur seine
Freunde etwas verstünden und daß er ein altes Kind sei, das den
erfolgreichen, zu Hause gebliebenen Freunden einfach zu folgen
habe. Und war es dann noch sicher, daß alle die Plage, die man
ihm antun müßte, einen Zweck hätte? Vielleicht gelang es nicht
einmal, ihn überhaupt nach Hause zu bringen – er sagte ja selbst,
daß er die Verhältnisse in der Heimat nicht mehr verstünde – , und
so bliebe er dann trotz allem in seiner Fremde, verbittert durch
die Ratschläge und den Freunden noch ein Stock mehr entfremdet.
Folgte er aber wirklich dem Rat und würde hier – natürlich nicht
mit Absicht, aber durch die Tatsachen – niedergedrückt, fände
sich nicht in seinen Freunden und nicht ohne sie zurecht, litte an
Beschämung, hätte jetzt wirklich keine Heimat und keine Freunde
mehr, war es da nicht viel besser für ihn, er blieb in der Fremde, so
wie er war? Konnte man denn bei solchen Umständen daran den-
ken, daß er es hier tatsächlich vorwärtsbringen würde?
Aus diesen Gründen konnte man ihm, wenn man noch über-
haupt die briefliche Verbindung aufrechterhalten wollte, keine
eigentlichen Mitteilungen machen, wie man sie ohne Scheu auch
den entferntesten Bekannten machen würde. Der Freund war nun
schon über drei Jahre nicht in der Heimat gewesen und erklärte dies
sehr notdürftig mit der Unsicherheit der politischen Verhältnisse in
Rußland, die demnach also auch die kürzeste Abwesenheit eines
kleinen Geschäftsmannes nicht zuließen, während hunderttau-
sende Russen ruhig in der Welt herumfuhren. Im Laufe dieser drei
Jahre hatte sich aber gerade für Georg vieles verändert. Von dem
Todesfall von Georgs Mutter, der vor etwa zwei Jahren erfolgt war
und seit welchem Georg mit seinem alten Vater in gemeinsamer
Wirtschaft lebte, hatte der Freund wohl noch erfahren und sein
Beileid in einem Brief mit einer Trockenheit ausgedrückt, die ihren
Grund nur darin haben konnte, daß die Trauer über ein solches
Ereignis in der Fremde ganz unvorstellbar wird. Nun hatte
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