Das verlorene Ich
Kelche aneinander .
Landers erinnerte sich eines Begriffs, den Jerome ihm genannt hatte. Ob dieser »Lilienkelch« darunter war?
Landers kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken.
Er registrierte die Bewegung in den Schatten, die in den entfernteren Ecken des Raumes nisteten, im gleichen Moment, da ihn Jero-mes Warnung erreichte.
»Herr!«
Landers wirbelte herum.
Und sah den seltsamen Kerl, der ihm schon zweimal zum Verhängnis geworden war. Ein drittes Mal wollte und würde er es nicht zulassen.
Zwar erinnerte er sich nach wie vor an nichts aus seinem früheren Leben, aber was Jerome ihm berichtet hatte, sorgte doch zumindest dafür, daß er seine eigene, ungewöhnliche Kraft akzeptierte. Und nutzen konnte!
Trotzdem erstaunte es Hector Landers, wozu er fähig war .
Die Attacken des anderen kamen hart und ansatzlos, waren nicht zu erahnen. Dennoch schaffte Landers es, den Hieben auszuweichen, mit der Geschwindigkeit eines Irrwischs.
Die Fäuste des Gegners droschen Löcher in die Luft, und Landers machte es sich zum Spaß, den anderen so zu dirigieren, daß er schließlich das wertvolle Mobiliar zertrümmerte.
Bis er das Spielchen leid war. Und selbst aktiv wurde.
Rein von der Kraft her mochte er dem anderen nicht unbedingt überlegen sein. Aber es gelang Landers durch gezielte Finten, den Hünen zu Manövern zu zwingen, die er für sich nutzen konnte.
Als der andere wie ein angriffswütiger Bulle auf ihn zustürmte, wich er zur Seite aus, packte ihn mit schier übermenschlicher Gewalt und gab ihm noch mehr Schwung.
Der Hüne geriet ins Stolpern - geradewegs auf die Fensterfront zu!
Klirrend und knirschend ging das Sicherheitsglas unter dem Aufprall zu Bruch. Ein Scherbenregen ergoß sich nach draußen in die Nacht. Und inmitten des glitzernden Wirbels stürzte der hünenhafte Vasall Vautiers in die Tiefe. Stumm.
Um ein Haar wäre ihm Landers gefolgt, vom eigenen Schwung getragen. Hastig streckte er einen Arm aus, bekam eine Stahlverstrebung zu fassen. Trotzdem hing er für einen Moment beinahe wie schwebend über dem Nichts, dreißig Stockwerke hoch. Der Blick nach unten ängstigte ihn nicht im mindesten .
Jerome Vautier hatte seinen Vater inzwischen in eine Ecke gedrängt. Landers trat zu ihnen. Lächelnd. Dann fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Sein Blick saugte sich förmlich am faltigen Hals des alten Vautier fest, gierig und lauernd in einem.
»Erweise mir einen letzten Dienst, alter Freund«, knurrte er kehlig.
Giordan Vautier stierte ihn flackernden Blickes an. »Was willst du? Was hat das alles zu bedeuten?«
Landers grinste. »Du glaubst doch nicht, daß ich dir Fragen beantworten würde, oder? Hast du mir denn die meinen beantwortet? Aber vielleicht wirst du es jetzt ja tun. Du wirst mir verraten, wer ich bin - ob du willst oder nicht.«
Landers verspürte einen ziehenden Schmerz in den Kiefern. Na-delartige Spitzen berührten seine Lippen. Von innen! Verblüfft stellte er fest, daß seine Augzähne wuchsen .
Dann nahm er Giordan Vautier, was er ihm vor Jahren großzügig gelassen hatte.
*
Noch immer wußte Hector Landers nicht wirklich, wer er war.
Wohl aber, was er war. Sein mußte.
Die Erkenntnis seines Wesens ließ ihn seltsam kalt. Daß sein Durst fürs erste gestillt war, mochte dazu beitragen, daß er das Wissen als solches hinnahm. Was sich weiter daraus ergab, würde sich weisen müssen.
Heute Nacht jedoch würde er nicht darüber nachdenken. Sondern schlicht handeln. Denn der Durst in ihm erwachte bereits von neuem.
Sein Arm legte sich um Jerome Vautiers Schulter. Seite an Seite standen sie an dem zerstörten Fenster. Paris lag ihnen zu Füßen.
Hector Landers, der noch nicht wußte, daß er in Wahrheit Landru hieß und einer der mächtigsten Vampire der Erde war, wies hinaus. »Zeige mir die Schönheiten deiner Stadt!«
Epilog Stille.
Der Garten der Dämmerung war wieder, so hatte es den Anschein, in Stasis versunken. Ein geheimer, verlassener und von den Bewohnern der Stadt vergessener Ort, in dem die Kraft des Lilienkelchs schlummerte. Das, was der dunkle Gral der Vampire vor hundert Jahren hier gepflanzt hatte.
Eine Saat, die nie so aufgegangen war, wie sie sollte - nie zur vollen düsteren Schönheit erblüht war.
Und nun war die Blume, die Lilith Eden hieß, sogar am Verwelken - war geworden wie der Kelch, mit dem alles begonnen hatte: entweiht, geleert und nutzlos.
Lilith Eden, die Lilith, die einst Creannas Schoß entsprungen war, um den
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