Das verlorene Kind
Gebote. Er lehrte den Kindern die zehn
Gebote und ließ sie sie aufsagen. Bei den schweren Erntearbeiten half
er dieses Jahr nicht mit, er lenkte nur die Wagen in das Feld und holte
die Garben ein, wie einst, als seine Kraft und sein Leben begonnen
hatte. Im Herbst kam wieder der Husten, und er nahm die Medizin. Im
Frühjahr und Sommer war es wieder gut. Doch im dritten Herbst brach er
abermals zusammen, oben in seiner Stube, nach dem Aufstehen, und
niemand bemerkte es. Er aß sehr viel und wurde zusehends fetter. Sein
Atem ging schwer. Abends schlich er sich, statt in seiner Stube ins
Bett zu gehen, auf den Boden, neben sein altes Gelaß, setzte sich
aufrecht in den hohen Berg des Heues, mit dem er sich auch bedeckte,
und schlief so.
Im Frühjahr, in einer sturmdurchbrausten Märznacht, starb er,
aufrecht sitzend, von Kissen gestützt, in der Mutter Bett Er war am
Morgen des Tages ein drittes Mal zusammengebrochen, hatte sich dann von
selbst wieder erhoben, tagsüber viel gehustet und schwer geatmet, am
Abend aber hatte er wieder gelacht und heiße Milch mit Honig getrunken.
Doch im Fieber konnte er nicht gehen, er strauchelte über die Schwelle
der Küche, und der Herr führte ihn die Treppe empor und brachte ihn zu
Bett. Dort lag er still und drehte seine weitgeöffneten, glänzenden
Augen in dem dicken, von üppigem Haar und Bart umwucherten Gesicht nach
dem Fenster, an dem der Frühlingssturm rüttelte. Die Kerze, die auf dem
Tische brannte, flackerte. Der Herr sah ihn an, unter den halb
gesenkten Lidern forschte er in dem Gesicht des Knechtes. Er sah ein
kindliches, heiteres Antlitz, vom Tod sanft umweht.
»Das rüttelt,« sagte der Knecht, ganz leise, »morgen muß ich
gleich –« sein Atem riß, Husten und Röcheln erschütterte ihn
lange, er ruhte erschöpft, Schweiß auf der Stirn. Der Herr trat heran
und trocknete ihn ab, hob das schwere Federbett von der keuchenden
Brust des Kranken und hielt es mit den Händen, so daß es noch wärmte,
aber nicht drücken konnte.
»Ich kann da nicht dafür«, sagte der Knecht noch, bäumte sich
auf, schlug die geballten Finger in die Decke, schlug um sich,
schweigend, mit weitaufgerissenem Mund, aus dem der schwer keuchende
Atem zischend entwich, sein Körper erzitterte furchtbar, krümmte sich
wie in lautlosem Lachen, sein Gesicht schimmerte in schwarzer Röte
durch den lichten Bart, unter den geschlossenen Lidern rasten die Augen
umher. Dann sank er plötzlich, tief beruhigt, zurück, die Glieder
lösten sich, sanft schloß sein Mund sich ineinander, seine Augen
stiegen aus den Schluchten der verkrampften Höhlen auf, die Lider
öffneten sich zu einem sanften, noch immer strahlenden Blick, weiß
umleuchtet von der Stirn und dem Gesicht. Doch als der Herr sich zu ihm
niederbeugte, wehte kein Atem ihn an, und die Kerze, schief vorgehalten
vor des Knechtes Mund, brannte in stiller Flamme empor, zum ersten Male
in diesen Abendstunden, da der Atem des Sturmes vom Fenster her sie bis
jetzt bewegt hatte. Der Herr zog langsam die hochgetürmten Kissen
hinter dem Rücken des Knechtes hervor und ließ ihn aus seinen Armen
behutsam niedergleiten. Doch als er das Haupt gebettet hatte und die
Hände ergriff, um sie zu falten, sah er, wie ein schnell und lautlos
rinnender Strom schwarzen Blutes aus dem atemlosen Mund des Toten über
seinen Bart floß. Die Augen, noch geöffnet, leuchteten.
Den Herrn durchschütterte zum ersten Male seit langer Zeit,
zum letzten Male für alle Zeit, menschliche Regung: Entsetzen packte
ihn, er stieß einen Schrei aus und wich zurück. Er fühlte Abscheu und
Grauen vor dem Mörder, den er jetzt in dem Toten begriff. Doch er
bezwang sich. Im Schein der wieder flackernden Kerze sah er unverwandt
auf den Toten. Er sah, wie das Blut verrann, langsam aufgesogen wurde
von den weichen Locken des Bartes, bald lag der Mund wieder frei da und
lächelte. Der Herr stieg hinunter in die Küche, holte warmes Wasser,
wusch dem Toten das Blut aus dem Bart, rieb ihn sorgfältig trocken, er
drückte seine Augen zu und faltete seine Hände. Er beruhigte und labte
sich an dem Anblick des sanften Totengesichts. Er setzte sich zu ihm,
bis die Kerze ausgebrannt war. Er hörte dem Sturme zu, der draußen
wütete. Der Knecht war sechzig Jahre alt geworden. Der Herr,
Christian B., stand in dem hohen Alter von fünfundachtzig
Jahren. Er begrub seinen Knecht, wie er es bei sich bestimmt hatte, auf
dem Kirchhof zu
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