Das verlorene Kind
I
Christian B. lebte in der zweiten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts als Domänenpächter auf dem Gute Treuen bei L. im
nördlichen Deutschland. Er war das jüngste Kind eines wohlhabenden
Bauern, und seine Heimat war im Bezirke M. des gleichen Landkreises,
einige Tagereisen von Treuen entfernt. Er hatte sie schon früh
verlassen.
Bei seiner Geburt waren seine beiden Brüder bereits erwachsen
gewesen und hatten mit dem Vater den elterlichen Hof beherrscht. Die
Mutter starb früh, er hatte sie nie gekannt.
Sein Vater hatte beschlossen, daß der jüngste Sohn studieren,
Geistlicher oder Lehrer werden sollte. So kam Christian als
zehnjähriges Kind in die Kreisstadt und besuchte die Schule. Er war der
fleißigste Schüler von allen, das Lernen fiel ihm leicht. Er war ein
ernstes, ruhiges Kind, voll Güte und Bescheidenheit, und gewann alle
Menschen zu Freunden. Es war ihm gegeben, daß sein Lachen rein, seine
Handlungen gut und seine Tränen freudige sein konnten. Kein Leid, keine
Bitterkeit, keine Enttäuschung, die das Leben selbst für ein Kind schon
birgt, traf ihn. Sein Glück war keines andern Leid. Er hatte nie
Verlangen nach der Heimat, seinen Fleiß stachelte kein quälender
Ehrgeiz, sein Leben war ruhig, ohne Ziel. Er war fromm, im festen
Glauben seiner Zeit erzogen, und betete in Demut, aber auch in einem
unbedingten Vertrauen zu Gott.
Und doch geschah es, daß er, als er vierzehn Jahre alt war, im
Dunkeln sich fürchtete. Es war eine sonderbare Furcht, ohne greifbaren
Grund. Sie überfiel ihn zum erstenmal, als er, vor Freude über die
Genesung eines lange und schwer erkrankten Kameraden schlaflos, in
einer Nacht am Fenster des Schlafsaales stand. Sein Herz schlug; er
fühlte noch die Berührung, mit der der Wiedergenesene seine Hand
ergriffen und sie zart, aber freudig gedrückt hatte. In der
Erschütterung, die diese Erinnerung in ihm hervorbrachte, bereitete
sich in seinem Innern die große Ahnung der Liebe vor; der Knabe ahnte,
daß nicht nur die Menschen ihm zu Freunden waren, sondern daß auch er
Freund den Menschen bedeuten konnte, er begriff, daß er einmal als Mann
lieben würde. Obwohl ihm diese Offenbarung aus reinstem Herzensgefühl
kam, rührte sie doch mit ihrem Glück bis ins Tiefste auch seinen Körper
auf. Und diesem zum erstenmal gefühlten Glück drängte sich plötzlich
die zum erstenmal gefühlte Furcht entgegen. Finsternis erschreckte ihn.
Es war eine mondlose Nacht. Um ihn schliefen die anderen, er sah sie
nicht, er hörte nur ihren Atem. Dunkelheit war auch um sie, aber eine
andere, hellere Dunkelheit als die, die um ihn stand. Er fühlte sie um
seinen freudig erregten Körper geschmiegt, eng wie eine zweite Haut, in
der er eingefangen war mit allen Strömen seines Blutes. Er fühlte sie
als eine böse, drohende, wesenlose Macht, die sein mit Freude erfülltes
Herz bezwang, es mit abgrundtiefer Furcht durchschauerte, aber es ließ
ihn nicht fliehen, nicht an Gott denken, den gütigen Erfüller aller
seiner Gebete, regungslos mußte er stehenbleiben, mußte der Furcht
gehorchen, der entsetzten Traurigkeit seines Herzens sich hingeben. Am
Tage war dann alles wieder heiter, eben und schön.
Als seine Schulzeit ihrem Ende zuging und er kurz vor der
Prüfung stand, starb sein Vater. Die Nachricht kam plötzlich und
unerwartet. Er begriff sie nicht völlig, und in einem dumpfen,
schmerzlichen Erstaunen bereitete er seine Abreise in die Heimat vor.
Am Abend vor der Reise streifte ihn, als er verworren in der
frühen, herbstlichen Dämmerung durch die kleine Stadt eilte, im Scheine
einer Straßenlampe schnell und dicht eine Frau. Ihr schneeweißes
Gesicht tauchte aus der Dunkelheit auf in den Kreis des Lichtes und
schwebte so nahe an dem seinen vorüber, daß er den Atem des lächelnd
geöffneten Mundes spürte. Die Augen, schwarz unter dichtem Haar, das
seine Schwärze bis tief über die Stirne senkte, waren weit und schamlos
aufgeschlagen, wogend ergoß sich Finsternis in seinen Blick. Als es
vorbei war und er sich umwandte, sah er eine graugekleidete,
mittelgroße und leicht üppige Frau in der Dämmerung die Straße
weitereilen. Aber ihr Blick verließ ihn nicht. Nachts vor dem Schlaf,
in der Dunkelheit, fühlte er ihn um sich, erkannte in ihm wieder jene
tiefere Finsternis, vor der er als Kind sich gefürchtet hatte.
Als Christian am nächsten Abend in der Heimat ankam, war der
Sarg schon geschlossen, er sah das Angesicht
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