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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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sprechen, ich bin betrunken, das müßt Ihr mir
verzeihen, Herr. Aber ich verstehe Euch, ich verstehe alles, alles habe
ich einmal verstanden. Es ist vieles besser mit mir geworden, Ihr könnt
es auch der Mutter sagen, niemand braucht mich mehr totzuschlagen.« Und
mit Anspannung aller Energie richtete der Trunkene sich frei auf,
öffnete seine Kleider, sah seinen Herrn mit einem klaren, traurigen
Blick an und sagte: »Verzeiht mir, Herr, ich habe nichts getan, ich bin
kein Mörder mehr.«
    Der Herr war aufgestanden und hatte die Blöße des Knechtes
wieder bedeckt. Er beugte sich nieder, zog ihm die schweren Stiefel von
den Beinen, entkleidete ihn und bettete ihn, der bereits in tiefen
Schlaf gesunken war.
    In der folgenden Zeit arbeitete der Knecht noch fleißiger als
zuvor, doch dieser Fleiß war erschütternd gepaart mit einer tiefen
Traurigkeit, die über seinem ganzen Wesen ausgebreitet war. Endlich, an
einem Sonntag, ging er wieder ins Dorf, sehnsüchtig umschlich er die
spielenden Kinder. Die Kinder erkannten ihn wieder. »Da ist der Bär«,
riefen sie und stoben davon, obwohl er sich nicht rührte. Er beugte
sich zu einem kleinen Mädchen nieder, das ruhig stehengeblieben war und
ihn ansah. Er hob es hoch und schaukelte es in weiten Schwüngen auf
seinen Armen. Das Kind lachte und jauchzte. Die anderen Kinder kamen
zurück, und nun begann er mit ihnen zu spielen, sie zu haschen, zu
schaukeln, die Kleinen auf seinem Nacken reiten zu lassen. Ein Kind
fiel und weinte. Er tröstete es und versprach ihm, eine Flöte zu
schneiden. So ward er doch der Freund der Kinder. Jeden Sonntag kam er
ins Dorf, und sie erwarteten ihn, liefen ihm entgegen und scharten sich
um ihn. Er verfertigte für sie Spielsachen aller Art, Käfige für ihre
Tiere, Peitschen und Kreisel, Flöten und kleine, aus Gras geflochtene
Körbchen. Im Winter fuhr er sie auf Schlitten und baute ihnen große
Figuren aus Schnee. Er beschenkte sie mit Zuckersachen, die er von
seinem Lohne kaufte. In das Wirtshaus ging er lange nicht. Zweimal noch
im Laufe der vielen Jahre kam er betrunken nach Hause, und dann hörten
die angstvoll lauschenden Frauen das wütende Stampfen seiner Füße
dröhnen, doch es floß kein Blut mehr, er sammelte keine Tiere mehr um
sich, er tötete nie mehr lebendige Wesen. Sein Glück war, ein Kind, ein
kleines Mädchen, aus der Schar der anderen ausgewählt, im Frühling und
im Sommer in den freien Stunden zu sich auf den schmalen Wiesenstreifen
neben dem Bach zu tragen, es neben sich zu setzen und zu ihm zu
sprechen, in unverständlichem Murmeln die Worte aus seiner Brust rinnen
zu lassen, während er für das Kind ein Spielzeug formte. Das Kind sah
andächtig auf seine Hände, lauschte ihm, ohne ihn zu verstehen. Von
ferne umschweifte Emma von Zeit zu Zeit mit sorgenvollen Augen die
friedliche Gruppe, doch nichts Böses geschah mehr bis zu ihrem Tode.
    Denn sie starb als Jüngste zuerst fort aus dem kleinen Kreis.
Sie war einundsechzig Jahre alt, als ein schneller harter Tod sie
überfiel und ihr Herz, wie einst die erste Umarmung ihren Leib, mit
grausamer Überwältigung bezwang. Sie hatte einen kurzen, aber schweren
Todeskampf nach einer dreitägigen, hitzigen Krankheit. Im Tode war ihr
Gesicht, gewaltig im Ausdruck, furchtbar verändert Von Schmerzen und
ohnmächtiger Abwehr war ihr Mund noch schmal und bitter
ineinandergekrampft, abgrundtief, ohne Frieden schienen die
schwarzumränderten Augen in dem Gewirr der Narben zu liegen, deren
bleiche, wächserne Gräben drohend auf Stirn, Wangen, Kinn und Nase
lagerten. Mit tiefer Bewegung wachte der Herr bei der Magd,
durchforschte ihr Totenantlitz, das Kunde gab von dem, was kein
Lebender vernehmen konnte, auch er nicht, der im Leben schon Erstorbene.
    Klara jedoch ging hinaus an den Bach, wo jetzt im Frühling
große Büsche blühender wilder Rosen standen. Sie schnitt große Mengen
davon ab, brach sie kurz hinter der Blüte und umkränzte so Gesicht und
Haupt der Toten nahe und dicht, und der rosige Schimmer der Blüten
ergoß sich wie ein Hauch von Leben über das Antlitz und löschte die
bösen, harten Linien aus, glättete das Gestrüpp der Narben. Sie
erneuerte die Blüten alle Tage, bis am dritten Tag der Sarg geschlossen
wurde.
    Jetzt rief sie den Knecht zum Abschiednehmen. Er trat ins
Zimmer, schwerer und ungefügiger noch geworden in den letzten Jahren,
nahm die Mütze ab, betete und weinte. Dann trat er nahe

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