Das Vermächtnis der Eszter
In den letzten Jahren hatte ich überhaupt nichts mehr von ihm gehört. Manchmal las ich in der Zeitung seinen Namen, einmal im Zusammenhang mit einem politischen Skandalprozeß. Es hätte mich nicht gewundert, wenn die Fama – im guten oder schlechten Sinn – seinen Namen aufgegriffen hätte. Doch der Skandal beruhigte sich rasch; einmal nur las ich noch, daß er sich duelliert hatte, irgendwo im Hof einer Kaserne, er hatte in die Luft geschossen und war nicht einmal verwundet worden! – und das alles paßte so vollkommen zu ihm, das Duell genauso wie die Tatsache, daß ihm nichts geschehen war. Ich wüßte auch nicht, daß er je ernstlich krank gewesen wäre. Er hat ein anderes Schicksal, dachte ich. Und ich legte mich wieder ins Bett, mit meinen Briefen, Erinnerungen und dem bittersüßen Bewußtsein meiner verpaßten Jugend.
Ich würde lügen, wenn ich sagte, daß ich in jener Stunde besonders unglücklich war. Es hat Jahre gegeben, ja, zwanzig, zweiundzwanzig Jahre zuvor, da war ich unglücklich. Dann aber war dieses Gefühl in mir geronnen wie das Blut an einer Wunde. Ich weiß nicht, was für eine Kraft das war, die dem Schmerz seine Schärfe nahm. Geheilt war ich allerdings nicht. Es gibt Wunden, die »die Zeit« nicht »heilt«. Erst ein paar Jahre nach der »Trennung« – es fällt mir sehr schwer, für das, was zwischen mir und Lajos geschehen ist, die richtigen Worte zu finden – war das Unerträgliche auf einmal natürlicher, einfacher geworden. Ich hatte nicht mehr das Bedürfnis, jemanden zu Hilfe zu rufen, ich schrie nicht nach dem Polizisten, dem Arzt, dem Priester. Ich lebte irgendwie … Eines Tages versammelten sich wieder Menschen um mich, Menschen, die mir versicherten, daß sie mich brauchten. Und dann wollte man mich heiraten, zweimal sogar. Tibor, der etwas jünger ist als ich, und Endre, den nur Nunu »Onkel« nennt und der nicht älter ist als Lajos. Diesem heiklen, eher einem Ausrutscher gleichenden Spiel bin ich irgendwie ausgewichen. Die Bewerber sind gute Freunde geblieben. Das Leben war, so dachte ich in jener Nacht, erstaunlicherweise gnädiger, als ich es je gehofft hatte.
4
Nach Mitternacht ist Nunu in mein Zimmer gekommen. In unserem Haus gibt es noch immer keinen Strom – Mama wollte nichts von dieser Neuerung wissen, und später, nach ihrem Tod, haben wir die Umstellung aus Sparsamkeit immer wieder aufgeschoben –, und so sind Nunus mitternächtliche Besuche stets ein wenig theatralisch. Auch jetzt, in ihrem Nachtgewand, mit dem flackernden Licht in der Hand, mit dem zerzausten grauen Haar, wirkte sie wie eine nächtliche Erscheinung. »Lady Macbeth«, sagte ich lächelnd. »Tretet näher, setzt Euch hierher.« Ich wußte, daß sie in dieser Nacht noch kommen würde.
Nunu hatte im Haus die Rolle einer ganzen Verwandtschaft übernommen. Sie war dreißig Jahre zuvor eingetroffen, eine jener Verwandten, die von Zeit zu Zeit aufbrechen wie ein sagenhafter Volksstamm. Aus der Urzeit war sie gekommen, aus dem komplizierten Stammesgeflecht von Tanten und Cousinen, für ein paar Wochen, auf Besuch. Und war geblieben, weil sie gebraucht wurde. Und dann sind in der Rangordnung der Familie alle vor ihr gestorben, und Nunu stieg von Jahrzehnt zu Jahrzehnt langsam auf wie in der Hierarchie eines Staates. Eines Tages war sie an die Stelle der Großmutter getreten, hatte das Zimmer im oberen Stock bezogen und den Wirkungskreis der Verstorbenen übernommen. Dann ist Mama gestorben, und dann Vilma. Nunu ist sich eines Tages bewußt geworden, daß sie niemanden mehr »ersetzte«, daß sie, die Hinzugekommene, die Übriggebliebene, nunmehr die Familie war.
Diese so komplizierte wie erfolgreiche Karriere ist ihr nie zu Kopf gestiegen. Nunu wollte für mich nie »Mutter« sein, und sie hat auch nie die Retterin der Familie gespielt. Mit den Jahren wurde sie immer wortkarger, nüchterner, von einer so unbarmherzigen, trockenen Nüchternheit, als hätte sie von allen Abenteuern des Lebens gekostet. Sie war sachlich und gleichgültig geworden wie ein Möbelstück. Laci hat einmal gesagt, Nunu habe bereits eine Politur wie ein alter Nußbaumschrank. Sie trug sommers wie winters das gleiche, Kleider aus einem glatten schwarzen Stoff, weder Seide noch Filz, und sie wirkte auf Freunde wie Fremde stets ein bißchen feierlich. In den letzten Jahren sagte sie nur noch das Allernötigste. Von ihrem Leben sprach sie nie. Es war mir klar, daß sie an allen meinen Sorgen und Nöten ihren Anteil
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