Das Vermächtnis der Wanderhure
hätte. Marie biss fröhlich in das schmackhafte graue Brot, das mit einer dicken Schicht Butter und Schinken belegt war, und wartete auf die Fragen, die unweigerlich kommen mussten. Als die Tischplatte so dicht mit Tellern, Tiegeln und Schüsseln bedeckt war, dass die Tonbecher kaum noch Platz fanden, setzte Hiltrud sich neben ihre Freundin und legte die Hand auf ihren Arm. »Was ist mit Trudi?«
»Die ist zu Hause bei Michel.« Marie lachte hell auf, als sie das fassungslose Gesicht ihrer Freundin sah.
»Du hast ihn tatsächlich gefunden? Wie habe ich daran nur zweifeln können!«
Hiltrud schnaufte und schüttelte ein über das andere Mal den Kopf. Manchmal sah es so aus, als läge der Fluch einer bösen Fee auf ihrer Freundin. Dann aber schien es, als sei Marie mit einerGlückshaut geboren worden, die ihr selbst das schlimmste Unglück zum Guten ausschlagen ließ.
»Ich glaube, du hast mir wirklich einiges zu erzählen. Aber jetzt iss erst einmal. Du siehst verhungert aus.«
Marie protestierte vehement. »Ich und verhungert? Da hört sich doch alles auf. Allerdings, wenn ich mich mit dir vergleiche …«
Ihr Spott konnte die Freundin jedoch nicht treffen. »Immerhin habe ich die vierzig schon eine Weile hinter mir gelassen, auch wenn ich nicht genau weiß, wann das war. Es gibt nun mal kein Kirchenbuch, in dem meine Geburt vermerkt worden ist.«
Dabei musterte Hiltrud Marie und breitete verwundert die Hände aus. Ihre Freundin schien um keine Stunde älter zu sein als an jenem Tag, an dem sie Rheinsobern verlassen hatte, um Michel zu suchen. Eigentlich wirkte sie sogar jünger und viel munterer. Aber das war wohl nicht verwunderlich, denn damals hatten sie die schlimme Zeit mit den Banzenburgern, von denen sie während ihrer Schwangerschaft wie eine Gefangene gehalten worden war, die Geburt und die ständige Angst um Michel niedergedrückt und gezeichnet. Jetzt aber erschien Marie so zeitlos schön, dass Hiltrud näher rückte, um das Gesicht ihrer Freundin im Schein des Herdfeuers und einiger Talglichter genauer zu betrachten. Da waren tatsächlich ein paar feine Fältchen um die Augen und zwei kaum wahrnehmbare Kerben an den Mundwinkeln, doch nichts deutete darauf hin, dass ihre Freundin bald das sechsunddreißigste Jahr vollenden würde.
»Kannst du dich noch an Kunigunde von Wanzenburg erinnern?«, setzte sie das Gespräch fort.
»Du meinst Banzenburg«, korrigierte Marie sie.
»Ich meine, was ich sage! Da hatte der Pfalzgraf uns eine arg verlauste Gesellschaft nach Rheinsobern geschickt. Es wird dich sicher freuen zu hören, dass dieses Miststück über ihre eigenen Schliche und Intrigen zu Fall gekommen ist. Vor einem Jahr hat Herr Ludwig ihren Mann seines Amtes enthoben und an dieböhmische Grenze geschickt, und ich hoffe, sie werden dort den aufständischen Hussiten zum Opfer fallen – oder sind es schon.« Hiltrud war sonst nicht so gehässig, doch die Banzenburger hatten, wie sie Marie wortreich erzählte, während ihrer Zeit auf der Vogtsburg die Bauern der Rheinsoberner Vogtei gegen jedes geschriebene Recht ausgepresst. Auch Hiltrud und ihr Mann hatten zwei Kühe als Sondersteuer abgeben müssen und dies trug die Bäuerin Michels Nachfolger und dessen Frau immer noch nach.
»Das kann uns unter dem nächsten Vogt nicht mehr passieren. Thomas und ich haben uns nämlich mit Wilmars Hilfe ein Haus in der Stadt und das Bürgerrecht gekauft. Unser Hof zählt jetzt zum Stadtfrieden und ist durch städtisches Recht vor dem Zugriff der Edelleute geschützt.«
Hiltruds Worte erinnerten Marie an ihre Verwandten in Rheinsobern, die sie auch würde aufsuchen müssen. In all der Zeit hatte sie kaum einmal an Hedwig und Wilmar gedacht, und nun leistete sie den beiden in Gedanken Abbitte. Dann erfüllte sie Hiltruds Wunsch, ihr von all den Abenteuern zu erzählen, die sie seit ihrer Abreise erlebt hatte. Einige besonders unangenehme Dinge verschwieg sie, um das Gemüt ihrer Freundin nicht zu stark zu belasten.
»Von Frau Kunigunde und dem Schicksal ihrer Sippe habe ich schon auf dem Weg von Falkenhain nach Nürnberg gehört«, setzte sie mit einem zufriedenen Lachen hinzu. »Unterwegs sind wir auf Konrad von Weilburg und seine Frau getroffen, die vom Pfalzgrafen ebenfalls an die Grenze der Oberen Pfalz zu Böhmen geschickt worden waren. Sie haben sich gut eingelebt und hoffen, dort ein Lehen zu erhalten. Die Banzenburger haben es jedoch schlechter getroffen, und Frau Kunigunde und ihre zahlreiche
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