Das Vermächtnis der Wanderhure
gehabt hatte. Das war auch anderen klar geworden, zuvorderst Pfalzgraf Ludwig, der sie nach dem angeblichen Tod ihres Mannes neu hatte vermählen wollen. Doch als Falko von Hettenheim behauptet hatte, Michel sei von Hussiten umgebracht worden, war sie überzeugt gewesen, dass er log. Sie wusste, dass der Ritter ihrem Mann den Aufstieg neidete, und hatte deswegen sofort vermutet, er habe Michel verletzt in den böhmischen Wäldern zurückgelassen, damit dieser einen qualvollen Tod in hussitischer Gefangenschaft erleide. Dieser Ahnung war sie nach Osten gefolgt, und sie hatte tatsächlich Recht behalten. Michel hatte dank der Hilfe friedlicher Tschechen überlebt, und gemeinsam war es ihnen schließlich sogar gelungen, dem Kaiser eine Botschaft von treu gebliebenen böhmischen Adeligen zu überbringen.
»Du bist heute aber sehr in Gedanken.« Anni blickte Marie verwundert an, denn ihre Herrin und Freundin war normalerweise gelassen und aufmerksam. Ihr Sinnieren musste wohl mit ihrer Schwangerschaft zusammenhängen. Sie wusste, dass Frau Marie und ihr Mann sich diesmal einen Sohn erhofften, dem Michel das Lehen würde vererben können. Mit Trudi gab es schon eineTochter, aber die würde später einen Ritter heiraten und Herrin auf dessen Burg werden. Der Kaiser hatte zwar erlaubt, dass sie das Lehen erben konnte, doch selbst dann würde es keine weiteren Adler auf Kibitzstein geben, sondern den Sippennamen eines anderen Geschlechts.
»Da hat eben ein Langohr das andere Esel genannt«, spöttelte Marie über Anni, die jetzt ebenfalls gedankenverloren vor sich hin starrte, und bat sie, ihr ein wenig mit Wasser vermischten Wein zu bringen. Während ihre Magd den Becher suchte, der von der als Tisch dienenden Frachtkiste gefallen und über das Deck gerollt war, versuchte Marie, die düstere Vorahnung abzuschütteln. Die Tatsache, dass sie ausgerechnet von dem ehrlosen Mörder und Verräter Falko von Hettenheim geträumt hatte, erschien ihr als schlechtes Omen.
Um die Bilder des Traums wegzuschieben, richtete sie ihre Gedanken auf die Ankunft in Rheinsobern. Sie fieberte dem Wiedersehen mit ihrer alten Freundin entgegen, von der sie von ihrem siebzehnten Lebensjahr an bis zu dem böhmischen Abenteuer nie lange getrennt gewesen war. Damals, vor mehr als anderthalb Jahrzehnten, hatte Hiltrud ihr das Leben gerettet, und sie waren gemeinsam als Ausgestoßene, als wandernde Huren, von Markt zu Markt gezogen und hatten ihre Körper so oft wie möglich verkaufen müssen, um überleben zu können. Als sich ihr Geschick nach fünf Jahren gewendet hatte, war aus Hiltrud eine geachtete Freibäuerin und aus ihr die Ehefrau eines Burghauptmanns geworden, den der Kaiser nach einer verlustreichen Schlacht zum freien Reichsritter ernannt hatte. In Augenblicken wie diesem erschien Marie ihr und Michels Aufstieg zu steil, und ihr schwindelte allein bei dem Gedanken an ihren neuen Stand und die Pflichten und Rechte, die dieser mit sich brachte.
Mit einem Mal fragte sie sich, was ihr Vater wohl zu alledem gesagt hätte. Als sie siebzehn gewesen war, hatte er es als das größte Glück angesehen, sie mit dem illegitimen, vermögenslosen Sohneines Reichsgrafen verheiraten zu können. Doch der war ein ebenso gewissenloser Schurke gewesen wie Falko von Hettenheim und hatte mit seinen Intrigen dafür gesorgt, dass sie nicht in ein geschmücktes Brautbett gelegt, sondern der Hurerei beschuldigt und verhaftet worden war. Schwer verletzt wurde sie aus der Stadt vertrieben, während ihr Verlobter ihren Vater um sein Vermögen brachte. Sie hatte überlebt, weil sie fest davon überzeugt gewesen war, sich irgendwann an ihrem Verderber rächen zu können. Das war ihr auch gelungen, indem sie sich den wütenden Protest der zum Konzil nach Konstanz gereisten Huren über die Zustände in der Stadt zunutze gemacht und Kaiser Sigismund selbst dazu gezwungen hatte, sie zu rehabilitieren. Da jedoch niemand wusste, was man mit einer wieder zur Jungfrau erklärten Hure anfangen sollte, hatte man sie kurzerhand mit ihrem Jugendfreund Michel verheiratet, und gegen ihre Erwartungen war sie mit ihm sehr, sehr glücklich geworden.
»Ich weiß nicht, wer das größere Langohr von uns beiden ist, Marie. Du denkst zu viel nach. Das ist nicht gut für das Kleine, das du in dir trägst.« Nach ihren gemeinsamen Erlebnissen in Böhmen als Sklavinnen der Hussiten konnte Anni sich nicht daran gewöhnen, ihre Freundin mit jener Ehrerbietung anzureden, die einer Burgherrin
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