Das Vermaechtnis des Caravaggio
Monaten gefunden haben, fehlte meinem Bruder das Gesicht.
Er hatte es ausgeschnitten, vernichtet, zerstört. Wir haben nicht begriffen,
warum, bis die Nachricht vom Duell und der schweren Verletzung meines Bruders
eintraf. Der Leichnam – ich traf Antonio nicht mehr lebend an – war außerdem geplündert
worden.“ Fra Domenico deutete auf das Amulett in Nerinas Hand. „Ihm fehlte die
Kapsel, die Ihr tragt.“
Mit einer Geste, die Nerina als
Bitte deutete, forderte er das Amulett.
„Wer sagt mir, dass Ihr das alles
nicht erfunden habt?“ Über das Gesicht des Johanniters zog ein schmerzlicher
Ausdruck. Seine Degenspitze hob sich vom Boden und kreiste über ihrer Hand. Sie
fühlte, dass er nahe daran war, sich das Amulett gewaltsam zu holen. „Alles
klingt so konstruiert, als entstamme es einem Ritterroman.“
Sie hörte, wie Fra Domenico
schluckte, wie er sich räusperte, wie er sich mit Gewalt zurückhielt. Gleichzeitig
fühlte sie die sanften Bewegungen ihres Kindes im Bauch, das sich gegen die
Stimme, gegen ihre Angst und gegen ihr Unwohlsein wehrte. Sie schloss die
Augen, weil sie befürchtete, er könnte mit demselben Hieb, mit dem er ihr das
Amulett vom Hals getrennt hatte, die Finger abschlagen und sich das silberne
Röhrchen holen.
„Welchen Sinn ergibt es, mir das
Amulett mitzugeben?“
„Es war ein Geschenk meines Bruders
an Caterina. Michele hat nur das Bild hineingetan. Mir blieb nichts mehr, was
an ihn erinnert hat, und er wusste es. Caterina hatte es dem Toten mit ins Grab
gegeben. Das weiß ich von ihr selbst.“ Die Degenspitze kreiste jetzt vor ihrer
Brust, und sie bemerkte, wie sie zu zittern begann. Fra Domenico konnte seine
innere Erregung nicht mehr verbergen. Wie in einem Vulkan staute sich in seinem
Innern der Druck.
„Gebt mir das Amulett.“
„Damit verliere ich die Erinnerung
an meinen Vater!“
Jetzt lachte Fra Domenico laut
heraus, und ihr Erschrecken teilte sich auch dem Kind mit, das fester trat und
unruhiger wurde. Unwillkürlich griff sie nach ihrem Bauch und drückte die Hand
mit dem Amulett dagegen, bis es sich beruhigt hatte. So, dachte sie sich,
halten nur Schwangere ihren Bauch. Hunderte Male hatte sie es gesehen und jetzt
zum ersten Mal selbst diese Bewegung gemacht.
„Ihr kommt schon noch auf Eure
Kosten, Nerina. Denn eine mögliche Geschichte hat Euch Michele sicherlich
verschwiegen. In seiner Wut über die Abweisung durch meinen Bruder hat Michele
seine Schwester Caterina geschwängert. Er, wohlgemerkt. Um meinen Bruder zu
kompromittieren, um ihn in die Enge zu treiben. Damals hätte ich mir gewünscht,
er hätte mich mehr beachtet, aber ich habe für ihn nicht gezählt. Ich war zu
jung, um ihm aufzufallen.“
Im ersten Moment glaubte Nerina,
sich verhört zu haben. Was hatte Fra Domenico gesagt? Michele hatte seine
Schwester ... Plötzlich hallte in ihr ein Begriff wider, den sie in Rom bereits
einmal gehört hatte. Schwesternschänder! Das hatten sie gerufen. Das hatte
vermutlich Fra Domenico gerufen, um Micheles Ruf zu zerstören. Entsprach die
Geschichte also nicht der Wahrheit, sondern wurde sie nur vom Johanniter
erzählt, um sie zu verunsichern? Sie wusste es nicht.
„Aber sobald Ihr geboren ward, nahm
Michele Euch, als Oberhaupt der Familie, der Mutter weg und verschenkte Euch an
Schausteller, immer mit der Auflage, dass sie Euch das Amulett aushändigten,
sobald Ihr mannbar geworden wärt. Ein Bastard aus Inzest durfte nicht im Hause
Merisi bleiben!“
Wie erstarrt sah Nerina den
Johanniter an. Wenn stimmte, was er ihr erzählte ...
„Ich ... bin also ... das Kind ...
von Caterina und ...“
„Michelangelo Merisi da
Caravaggio!“
Wie bei einem Puzzle fügten sich
jetzt alle Details und gaben einen neuen, seltsamen Blick auf die Umstände
ihrer Flucht. Erzählte er ihr wirklich die Wahrheit? Hatte Michele ihr nicht
kurz bevor er starb andeuten wollen, was der Johanniter Fra Domenico wusste?
„Was wollt Ihr dann von mir? Euch
habe ich nichts getan!“
„Ihr seid – sozusagen – das
personifizierte schlechte Gewissen Caravaggios. Jetzt gebt mir das Amulett!“ Sie
hörte den Degen nur durch die Luft zischen und fühlte, wie eine ihrer
Haarlocken zu Boden fiel. „Ich möchte Euch nicht zwingen müssen, versteht Ihr.“
Mit zitternder Hand reichte sie ihm
das silberne Röhrchen.
„Deshalb verfolgt Ihr mich? Seit
wann wisst Ihr davon?“
Aus seiner Stimme hörte sie den
Unwillen über all diese Fragen heraus. Seine Geduld endete.
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