Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
fragend zu Savonarola um. Alle Blicke waren nun auf ihn gerichtet, auch Leonoras. Nur Ferruccio starrte seine Frau erstaunt an, wie sie hocherhobenen Hauptes in der Menge stand.
Als wolle er das rote Meer teilen, öffnete der Prediger die Arme und legte langsam die linke Hand auf sein Herz, mit seiner Rechten gebot er den Milizen erst Einhalt und segnete dann die Menge. Ferruccio drückte Amos’ schwache Hand ein letztes Mal und richtete sich zu voller Größe auf. Als er auf Leonora zuschritt, teilte sich die Menge der Büßer und bildete eine Gasse. Ferruccio packte sie am Arm und zog seine Frau hastig von der Piazza, ohne sich noch einmal umzublicken.
Der Blick des Mönchs folgte ihm, bis seine Aufmerksamkeit abgelenkt wurde: Ein Büßer schrie in religiöser Ekstase unverständliche Sätze, und das gefiel Savonarola ganz und gar nicht: Gott liebt die Bescheidenen, dachte er. Der Mann wandte sich nun ihm zu und schwang die Geißel. Was sagte der Flegel? Savonarola schloss die Augen und zeigte mit dem Finger auf ihn. Endlich lächelte der Besessene, aber es war das Lächeln eines Wahnsinnigen. Der Mönch spürte, was gleich geschehen würde, und unwillkürlich öffneten sich seine Hände, um ihn aufzuhalten. Der Büßer entkleidete sich und lief zum Feuer.
»Nein!«, schrie Savonarola.
Doch es war zu spät: Mit einem Satz sprang der Mann auf den Scheiterhaufen, tauchte tief in den brennenden Holzhaufen, als wolle er sich bis auf den Grund des Feuers graben, und war nach wenigen Sekunden in der Funkenexplosion verschwunden. Einige Wächter stürzten zum Feuer, blieben jedoch abrupt stehen, als die Hitze ihre Gesichter rötete und sie sich zu verbrennen drohten. Der Geruch von verbranntem Fleisch, von Harz, Farben und Kohle trieb die gebannte Menschenmenge näher an den Scheiterhaufen heran.
In diesem Augenblick wurde Savonarola von einer Todesahnung erschüttert. Es war ein fast wollüstiger Schauer.
2
Ladakh-Tal, Tibet, 1476
»Das Mädchen lebt, aber ihre Mutter liegt im Sterben, Ada Ta.«
»Ein Leben für ein anderes Leben – der Zyklus ist vollendet, aber dies ist ein sehr trauriger Tag.«
»Der Vater wird nie wiederkommen, nicht wahr?«
»Wie die Bienen hat er sein Karma erfüllt, und sein Geist ist nun weit entfernt.«
Für einen Augenblick spürte Ada Ta die Bürde seiner Jahre und ließ den Blick aus dem Fenster schweifen. Eine weiße Wolke teilte sich, vom Wind getrieben, auf der Spitze des Chogori, des großen Berges, und trieb in entgegengesetzten Richtungen auseinander, der Sonne entgegen. Von Weitem hörte Ada Ta das hohe Kreischen einer Elster. Vielleicht war das kleine Nagetier mit den runden Ohren ein Wachposten und hatte sich dem Adler geopfert, um seinen Gefährten die Rettung in ihre schützenden Höhlen zu ermöglichen. Mit seinem Fleisch würden die Küken des Raubvogels bis zum nächsten Herbst überleben können. Ada Ta schüttelte den Kopf. Der junge Mönch spürte, wie die kleinen Finger des Mädchens nach seinem Zeigefinger griffen. Diese Berührung beruhigte ihn. Nachdem der Säugling gebadet und versorgt worden war, legte er ihn der Mutter auf die Brust. Nun konnte die Frau in Frieden gehen.
»Wie werden wir sie nennen?« Der junge Mönch versuchte vergeblich, seine Tränen zu unterdrücken. »Sie ist sehr hübsch und verdient einen schönen Namen.«
»Das ist noch nicht ihr Verdienst«, erwiderte Ada Ta. »Aber Gua Li, der Name der Liebe und der Weisheit, erscheint mir angemessen.«
»Nach diesen Maßgaben wird der Alte sie also aufziehen«, dachte der junge Mönch. »Das Blut, das in ihren Adern fließt, macht dann den Rest. Und nun hör auf zu weinen.«
»Die Mutter atmet nicht mehr …«
»Dann gib mir das Mädchen. Sie ist zu klein, um den Odem des Todes einzuatmen. Es ist noch nicht die Zeit für sie, ihn kennenzulernen – der Lebenszyklus wird sich in ihr wiederholen. Merkst du, wie still sie ist? Sie weint nicht mehr, obwohl sie Hunger hat, das ist ein guter Beginn. Bring mir nun eine Ziege, deren Euter voll guter Milch ist. Und sobald du die Mutter in ein weißes Tuch gewickelt hast, bringen wir ihren Körper an einen Ort, wo nicht einmal die Geier ihn finden werden. Der Himmel wird ihren Geist anlächeln.«
Ladakh, Tibet, 20 Jahre später, im Jahr 1496
Zum Sonnenuntergang erschien der alte Hannas ben Seth. Sein Schritt war gemächlich, und im Gehen betete er mit gesenktem Haupt. Die stumme Menge beobachtete mit Sorge und Erstaunen, wie ihr einstiger
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