Das Versteck
Erstes Kapitel
1
Eine ganze Welt summte geschäftig jenseits der dunklen Gebirgswälle, doch Lindsey Harrison kam es so vor, als wäre die Nacht öde und leer, ebenso leer wie die Kammern eines kalten, toten Herzens. Fröstelnd ließ sie sich etwas tiefer in die Polster des Beifahrersitzes sinken.
Dichtgedrängte Reihen alter Nadelbäume zogen sich zu beiden Seiten des Highways hügelaufwärts. An manchen Stellen traten sie ein wenig auseinander und boten vereinzelten Ahornbäumen und Birken Platz, deren winterkahle Äste gespenstisch in den Himmel ragten. Aber dieser majestätische Wald, der sich an den bizarren Felsformationen festklammerte, war machtlos gegen die Leere der bitteren Märznacht. Er schien nicht real zu sein. Während der Honda die kurvenreiche Straße hinabfuhr, schwebten Bäume und Felsen vorbei wie unwirkliche Traumbilder.
Im scharfen Wind trieben zarte trockene Schneeflocken durch das Scheinwerferlicht. Doch auch der Sturm vermochte nichts gegen die Leere auszurichten.
Lindseys Gefühl der Leere hatte keine äußeren Ursachen. Es kam von innen. Der chaotische Prozeß der Schöpfung war auch an diesem Abend in vollem Gange, allgegenwärtig wie seit ewigen Zeiten. Nur ihre eigene Seele war eine Wüstenei.
Sie blickte zu Hatch hinüber. Er saß leicht vorgebeugt hinter dem Steuer und spähte in die Dunkelheit hinaus. Jedem anderen wäre sein Gesichtsausdruck vielleicht ausdruckslos und unergründlich vorgekommen, aber nach zwölfjähriger Ehe verstand Lindsey mühelos darin zu lesen. Hatch war ein ausgezeichneter Autofahrer, dem schlechte Straßenverhältnisse nichts ausmachten. Zweifellos war er – ebenso wie sie selbst – in Gedanken bei dem verlängerten Wochenende, das sie gerade am Big Bear Lake verbracht hatten.
Wieder einmal hatten sie versucht, die frühere Ungezwungenheit im Umgang miteinander zurückzugewinnen. Und wieder war es ihnen nicht gelungen.
Die Ketten der Vergangenheit ließen sie noch immer nicht los.
Der Tod eines fünfjährigen Sohnes hatte unermeßliche emotionale Folgen. Er legte sich zentnerschwer aufs Gemüt, erstickte jede Heiterkeit schon im Keime, ließ zaghafte Knospen der Freude gar nicht erst erblühen. Jimmy war nun schon seit mehr als viereinhalb Jahren tot, fast so lange, wie sein kurzes Leben gewährt hatte, und doch lastete sein Tod heute noch genauso auf ihnen wie an jenem Tag, als sie ihn verloren hatten. Wie ein überdimensionaler Mond, der sich auf zu naher Umlaufbahn bedrohlich auftürmt.
Während er konzentriert durch die verschmierte Windschutzscheibe schaute, auf der die schneeverkrusteten Scheibenwischer hin und her schrabbten, seufzte Hatch leise. Dann sah er kurz zu Lindsey hinüber und schenkte ihr ein Lächeln. Es war ein schwaches Lächeln, fast maskenhaft, freudlos, müde und melancholisch. Er schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich aber anders und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Highway zu.
Die drei Fahrspuren – eine abwärts, zwei aufwärts – verschwanden zusehends unter einer Schneedecke. Am Fuße des Abhangs mündete ein kurzer schnurgerader Straßenabschnitt in eine weite, unübersichtliche Kurve. Dieser Teil der Strecke war flach, aber die San Bernardino Mountains lagen noch nicht endgültig hinter ihnen. Die Straße würde noch einmal steil abwärts führen.
In der Kurve änderte sich die Landschaft um sie herum: Rechts ragte nun eine regelrechte Steilwand empor, während auf der anderen Straßenseite ein schwarzer Abgrund gähnte.
Weiße Leitplanken warnten vor dieser Schlucht, aber sie waren im Schneegestöber kaum zu erkennen. Ein, zwei Sekunden bevor sie aus der Kurve kamen, hatte Lindsey eine Vorahnung von Gefahr. »Hatch …«
Vielleicht spürte auch Hatch die Bedrohung, denn Lindsey hatte kaum den Mund geöffnet, als er auch schon leicht auf die Bremse trat und die Geschwindigkeit ein wenig verringerte.
Eine abschüssige gerade Strecke lag vor ihnen, und zwei Fahrstreifen wurden durch einen quer stehenden großen Biertransporter blockiert, nur fünfzehn oder zwanzig Meter entfernt.
Lindsey versuchte »o Gott!« zu murmeln, brachte aber keinen Ton heraus.
Der Fahrer hatte offenbar Bier in eines der Skigebiete in der Gegend liefern wollen und war vom Schneesturm überrascht worden, der erst vor kurzem eingesetzt hatte, aber immerhin noch einen halben Tag früher als vom Wetterbericht vorhergesagt. Ohne Schneeketten griffen die großen Reifen des Lastwagens auf dem vereisten Pflaster nicht, und der
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