Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
man erfahren, gesehen oder gelesen hat, und Ihr seid nahe daran zu begreifen, was einen Gelehrten ausmacht.«
»Seid Ihr auch ein Gelehrter, ein Weiser der Berge?«, wollte sie wissen. Verlegen fügte sie hinzu: »Verzeiht meine Unwissenheit, aber ihr lebt so zurückgezogen, dass kaum jemand etwas über euch zu berichten vermag.«
»Ihr müsst Euch nicht entschuldigen. Vor nicht allzu langer Zeit gingen Verianer noch in vielen Herrscherhäusern ein und aus und studierten neue Errungenschaften. Könige und Fürsten demgegenüber liebten Geschichten über die alten Völker oder über die wandernden Sterne. Doch in den Zeiten des Krieges schwand das Interesse daran. Die Gelehrten mussten Heerführern weichen und kehrten in den Turm zurück. Ich will nicht verschweigen, dass die meisten dies gern taten. Wir alle lieben die Einsamkeit. Und nun zu Eurer Frage: Fast alle Verianer sind Gelehrte, aber nur alle zweihundert Jahre wird ein Weiser, ein direkter Nachfahre unserer Ahnfrau Dala, geboren. Dabei spielen Eltern keine Rolle. Alle zweihundert Jahre kommt am Göttertag ein Knabe auf die Welt, der direkt nach dem Tod seines Vorgängers der nächste Weise der Berge wird.«
Sie fand seine Ausführungen interessant, weil sie so seltsam klangen, und hätte gern noch weiter gefragt, aber in diesem Augenblick kam Ramon auf sie zu. »Lukas wartet mit den Böcken. Er rät zur Eile, denn die Wolfsjäger sind nicht mehr weit. In Thula haben sie heute Nacht jedem Haus einen Besuch abgestattet.«
Marga nickte. »Bleibt zu hoffen, dass sie den Wegen, die in den Süden führen, weniger Beachtung schenken. Also weiter! Bei Sonnenaufgang will ich am Kreuzweg sein.«
Margas Plan ging auf: Eine weitere Begegnung mit den Horden blieb ihnen erspart.
Seit zwei Tagen waren sie jetzt in den Sümpfen unterwegs. Die kühle, klare Bergluft war längst einer drückenden Schwüle und modrigem Gestank gewichen. Kleider klebten am Körper, allein das Atmen wurde zur Tortur. Ein mal breiterer, mal schmalerer Pfad schlängelte sich zwischen trüben Wasserlöchern, weiten Flächen aus blubberndem Morast und hohen Schilfgewächsen hindurch. Braun und Grün umgab sie, wohin sie auch blickten. Das Zirpen unzähliger Grillen, das sie zunächst noch erfreut hatte, klang mittlerweile überlaut und nervtötend in Margas Ohren, und das Surren der kleinen Stechmücken um sie herum, machte sie fast wahnsinnig.
Sie spürte, wie ihr Schweiß in den Kragen rann, wäre aber nie auf den Gedanken gekommen, zumindest ihren Mantel auszuziehen. Danid hatte seinen gegen den dringenden Rat Meister Catos gestern abgelegt, war nun überall zerstochen und kratzte und stöhnte zum Gotterbarmen. Dünnerer Stoff schien die Blutsauger nicht abzuhalten. Sechs, sieben Tage hatte sie eingeplant, um den Sumpf zu durchqueren, und schon jetzt fragte sie sich, ob das nicht zu kühn gedacht war, denn sie kamen immer langsamer voran. Die Bergböcke mussten ständig angetrieben werden, da sie sonst einfach stehen blieben, und mit ihren Wasservorräten mussten sie bereits haushalten. Alles um sie herum war nass oder feucht, aber eine Trinkwasserstelle hatten sie bisher nicht ausmachen können. Doch das Gefährlichste war, dass die Konzentrationsfähigkeit immer mehr nachließ. Die eintönige, heiße Umgebung wirkte einschläfernd. In immer kürzeren Abständen ließ sich der jeweilige Vorreiter ablösen, und Meister Cato wäre einmal beinahe aus dem Sattel gefallen, weil er eingenickt war.
Nicht einmal dem Wissen, vor Hordenkriegern sicher zu sein, konnte Marga noch etwas abgewinnen, denn wie eine eventuelle Begegnung mit den Kalla ablaufen würde, wusste sie nicht. Sie kannte sie nur aus Erzählungen, diese riesigen Echsenmenschen, die durch ihre natürliche Panzerung schwer verwundbar und wegen ihrer Stärke, Schnelligkeit und ihrer Krallen, die lang wie Dolche sein sollten, gefürchtet waren. Bei ihrer Nahrungssuche galten sie als nicht wählerisch. Menschen gehörten durchaus mit zu ihrer Beute. Da Marga bis auf Insekten und Vögel keinerlei Tiere zu Gesicht bekommen hatte, konnte sie Letzteres sogar verstehen.
Unter anderen Umständen wäre sie niemals freiwillig in die Sümpfe gegangen. Allein die Versicherung ihres Sehers, Meister Fergus, dass Kalla nicht ohne Grund töteten, hatte sie genug von den Camora-Horden unterschieden, um ihnen bei der Wahl des Weges den Vorzug zu geben.
»Menschen und Sümpfe passen nicht zueinander. Wir werden bei lebendigem Leib aufgefressen«,
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