Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
Wurf, und die Gefahr wäre gebannt! Sein Griff lockerte sich wieder. Er war zwar tief gesunken, aber so tief, ein wehrloses Mädchen zu töten, dann doch nicht.
»Hexe?«, kreischte Caitlin, die keine Ahnung hatte, wie nah sie eben dem Tod gewesen war, gerade zum dritten oder vierten Mal. »Wie könnt Ihr es wagen? Ich werde dafür sorgen, dass Ihr Eure Worte noch bitter bereut!«
Rhonan bereute jetzt schon, allerdings nicht seine Worte, sondern dass er diese Reise überhaupt angetreten hatte.
»Hat es Euch die Sprache verschlagen?«, fragte sie und rümpfte triumphierend die Nase.
Er schwieg tatsächlich, und Gideon sah vom Kessel hoch. »Die Suppe ist fertig.« Mit diesen Worten hielt er Caitlin schon eine Schale hin.
»Oh danke«, säuselte sie, während sie sich auf eine Decke setzte und sich Brot reichen ließ. »Ihr seid sehr freundlich. Es ist gut zu wissen, dass es noch Menschen gibt, die nicht nur an sich selbst denken.« Sie war sofort mit dem Essen beschäftigt, so dass ihr die ungläubigen Blicke ihrer Begleiter entgingen.
Der Prinz aß nur wenig, und auch Gideon hatte seinen großen Hunger verloren. Vor wenigen Tagen noch hatte er gedacht, dass es viel Langeweile mit sich brachte, sein Leben ganz den Schriften zu widmen. Je mehr er gelesen hatte, desto mehr hatte er befürchtet, das wahre Leben zu versäumen. Wenn das jetzt das wahre Leben war, zog er doch die Bücher vor. Aber gerade weil er so viel gelesen hatte, wusste er, was er bei der anstehenden Arbeit alles falsch machen konnte. Ein falscher Schnitt konnte dazu führen, dass das Bein für immer steif blieb. Eine Entzündung, gegen die er hier nur wenig ausrichten konnte, konnte zum Tod führen. Was hatte er sich nur dabei gedacht, so vorschnell seine Dienste anzubieten? Aber konnte er jetzt noch einen Rückzieher machen? Vor ihm saß der einzige überlebende Nachkomme des da’Kandar-Geschlechts. Ein Fehler von ihm, und es würde gar keinen mehr geben. Das wäre das Ende der Prophezeiung. Er seufzte aus tiefster Brust. Die Begründung für sein Angebot war trotz aller Überlegungen leider auch noch vorhanden: Der vor ihnen liegende Weg war nicht dank göttlicher Fügung plötzlich kürzer, unbeschwerlicher oder ungefährlicher geworden.
Rhonan bemerkte die steigende Unruhe des Verianers. Noch mehr Zeit zum Überlegen, und der Gelehrte würde seine Heilkunst für sich selbst benötigen. »Seid Ihr bereit?«, fragte er deshalb.
Gideon schrak zusammen, stieß die Luft aus und nickte. Jetzt oder nie! Er half seinem Begleiter hoch und stützte ihn beim Gehen.
Caitlin sah den beiden hinterher, griff sich noch ein Brot und hoffte, dass durch ein Bad zumindest der bestialische Gestank verschwinden würde. Während sie aß, überlegte sie, ob sie Verbindung zu ihrer Mutter aufnehmen sollte, um die Erlaubnis zu erbitten, die Reise abbrechen zu dürfen. Zwar hatte sie Gideon versprechen müssen, es nicht zu tun, weil sie »ganz geheim« reisen mussten. Aber wenn sie sie ohnehin nicht weiter begleiten würde, war das schließlich belanglos. Sie war fast erschlagen und heute fast gefressen worden. Niemand konnte von ihr erwarten, dass sie noch mehr ertrug. Wütend schmiss sie ihr letztes Stückchen Brot gegen die Wand, denn ihre Mutter würde nie ein Einsehen mit ihr haben. Eher würden auf der Nebelinsel Witze über die arme Caitlin gemacht werden, die jetzt sicher bedauerte, die magischen Lehren vernachlässigt zu haben. Sasha und selbst Java, ihre jüngste Schwester, hätten die Banditen und den Wolf vermutlich eingeäschert. Nein, Verständnis durfte sie nicht erwarten, und für Belustigung wollte sie nicht sorgen. Wahrscheinlich waren schon Wetten im Umlauf, wann sie kleinmütig um Hilfe bitten würde. Da sie ohnehin keine erwarten durfte, würde sie auch nicht darum bitten. Oder vielleicht doch? Schließlich hatte ihre Mutter von Latohor gesprochen, und jetzt saß sie in Begleitung eines klapprigen Gelehrten und eines humpelnden Säufers in einem kalten und unheimlichen Wald fest. Gute Erfahrungen sorgen lediglich für unser Wohlbefinden, aber schlechte Erfahrungen lassen uns reifen! Einer von Ayalas Lieblingssprüchen fiel ihr ein. Nun gut! Ihr blieb wohl nichts anderes übrig, als zu reifen und zu hoffen, dass die Reife nicht in Fäulnis endete.
Eine Weile starrte sie mit leerem Blick vor sich hin, dann erhob sie sich gähnend, stellte ihre Schale ans Feuer und bereitete sich ganz allein aus Felldecken ihr Lager. Dabei stellte sie fest, dass
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