Brother Sister - Hoert uns einfach zu
Asheley
Sie müssen wissen, dass ich meinen Bruder liebe. Okay, manchmal macht er mir auch Angst, aber …
Das macht es mir ja so schwer. Egal, was er getan oder nicht getan hat – er tut mir leid, verstehen Sie?
Will hatte es immer schwer. Viel schwerer als ich. Ich war erst vier, als unsere Eltern sich trennten, und eigentlich kann ich mich gar nicht daran erinnern. Will war fast sechs. Er hat mitgekriegt, was damals passierte, und es hat ihn total überfordert. Als Dad abgehauen war, hat Mom ihn sich vorgeknöpft und zu ihm gesagt: »Jetzt bist du der Mann im Haus, Will. Du trägst ab jetzt die Verantwortung. Wenn du versagst, geht hier alles den Bach runter.«
Er muss total schockiert gewesen sein. Ich weiß, dass er’s war. Stellen Sie sich das bitte mal vor: Als Sechsjähriger gesagt zu bekommen, dass es seine Schuld ist, wenn die Familie untergeht!
Ich weiß nicht, ob Mom damals schon trank. Wahrscheinlich. Keine Ahnung. Dieses Jahr haben wir zum ersten Mal richtig über ihre Trinkerei gesprochen. Vorher war es einfach Teil unseres Lebens, wir waren es gewohnt. Auch dass sie andauernd verrückte Sachen anstellte. Einmal war sie drei Tage verschwunden. Dann kriegten wir einen Anruf von den Bullen … entschuldigung, von der Polizei. Wir sollten den ganzen Weg nach San José kommen und sie abholen. So Sachen, manchmal noch schlimmere.
Emotional ist Will nie mit dem Durcheinander zurechtgekommen, das bei uns herrschte. Ab der fünften, sechsten Klasse hatte er ständig Ärger. Er machte nichts Kriminelles, so war er nicht drauf, aber er rastete schnell aus. Ein Mitschüler brauchte bloß was über seine neue Frisur zu sagen oder ihm das alberne gelbe Schweißband, das er immer trug, vom Kopf zu reißen, und schon schlug er wild um sich, tänzelte hin und her wie ein Boxer, aber er traf nie – höchstens sich selbst. Es machte mich immer ganz traurig. Es war, als würde er innerlich explodieren. Ich weiß noch, wie er einmal einen toten Frosch mit in die Schule brachte und ihn so lange in seinem Spind liegen ließ, bis man praktisch nur noch mit Gasmaske durch den Flur gehen konnte. Das ganze Erdgeschoss wurde abgesperrt, und die Feuerwehr musste kommen, um die Spindwand abzutransportieren. Es war, als ob er es regelrecht drauf anlegte, anderen auf die Nerven zu gehen.
Als er auf die Highschool kam, war er etwas ruhiger geworden und musste sich nicht mehr pausenlos zum Affen machen, aber Freunde hatte er immer noch nicht. Dann schoss er in die Höhe und war plötzlich einsvierundneunzig. Dabei war er spindeldürr, weil er kaum was aß. Wenn man ihm was zu essen vorsetzte, stocherte er bloß auf dem Teller rum und aß höchstens ein paar Bissen. Meist verschanzte er sich in seinem Zimmer, las Autobiografien von Sportlern und hörte Musik von Bands wie Interpol, die Boxen voll aufgedreht. Eigentlich verließ er das Haus nur, um an die Klippen zu gehen und Golfbälle so weit wie möglich in die Bucht zu schlagen. In der Schule versuchte er, sich unsichtbar zu machen, drückte sich an den Wänden entlang, um nicht gesehen zu werden, und setzte sich in jedem Klassenraum ganz nach hinten. Da zeichnete er dann vor sich hin. Strichmännchen. Typen, die genauso ausgehungert waren wie er und Basketball, Tennis, Golf oder sonst was spielten. Wahrscheinlich sollte er das selber sein.
Aber es war nicht so schlimm, wie es sich anhört. Im Grunde war er ein guter Kerl. Sie hätten mal sehen sollen, wie er zu Hochform auflief, wenn es darum ging, Mom aus irgendeiner Klemme zu helfen. Dann war er plötzlich der vernünftigste und fähigste Typ, den man sich vorstellen kann. Erst hinterher lag er stundenlang im Bett und konnte nur noch zittern und heulen. Und es gab nichts, womit ich ihn beruhigen konnte, egal, was ich versuchte.
Dieses Jahr sah es so aus, als würde er Boden unter die Füße kriegen. Wahrscheinlich lag es auch daran, dass es Mom besser ging. Sie hatte mit dem Trinken aufgehört. Vier Monate lang rührte sie keinen Tropfen an. Manchmal kochte sie sogar für uns und so.
Er hat mir vertraut. Immer. Und ich hab immer mein Bestes gegeben, um ihm zu helfen. Einmal hab ich ihn zu einem Drogeriemarkt geschleift, um ihm zu beweisen, dass die Kassiererin ihn nicht auslacht, wenn er sich Aknecreme kauft.
Es ging ihm wirklich viel besser. Ich hab ihn sogar dazu gekriegt, die albernen Schweißbänder wegzulassen und nicht immer dasselbe gestreifte Polohemd zu tragen, das er sich wie ein Profisportler in die Hose
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