Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
abwischen. Der Dolch wanderte von der einen zur anderen Hand und wieder zurück.
»Könnt Ihr sonst noch etwas spüren?«, fragte er.
Sie schien ihn nicht zu hören, sondern in eine Art Trance verfallen zu sein, verkrampfte sich aber plötzlich sichtbar und keuchte laut auf. »Es sticht, es … Ich will das nicht. Genau hier ist der Ursprung!«
»Sicher?«
Sie nickte nur wild.
»Danke, Caitlin! Haltet jetzt das Bein unten«, befahl der Verianer. »Es muss ganz ruhig liegen. Bereit?«
Rhonan nickte und griff wieder zum Gürtel.
»Nein! Was soll das? Ich …«, keuchte die Prinzessin.
»Festhalten!«, brüllte Gideon. »Sonst sind wir beide bald schutz- und führerlos in diesem Wald gefangen.«
»Oh nein, oh nein«, jammerte die Prinzessin. »Ich will das nicht.«
»Ihr müsst!«
»Göttin, steh mir bei!« Ihre Stimme klang atemlos.
Der Verianer dagegen hielt den Atem an, setzte den Dolch an und stach zu. Der erste Schnitt war getan. Warm lief Blut über seine Finger. Er biss sich auf die Lippe, konnte gar nicht glauben, was er da gerade tat, und musste sich dazu zwingen, tiefer zu schneiden.
Caitlin drückte, so fest sie konnte, die Augen weiterhin geschlossen. Sie sah nichts, spürte jedoch, wie die Klinge ins Fleisch schnitt, und hielt ebenfalls die Luft an. Sie hörte Stöhnen, und Übelkeit stieg in ihr hoch. Entweder wurden ihre Hände feucht oder das Bein oder beides. Ihre Hände rutschten ab. »Oh heilige Myria!«
»Haltet das Bein ruhig! Ich muss dicht am Knochen sein. Nicht zucken jetzt, Rhonan! Ich glaub, ich hab’s gleich!« Gideons Stimme war nur noch ein Krächzen.
Caitlin nahm die zunehmende Verspannung der Muskeln wahr, versuchte, die Schmerzen, die sie spürte, zu verdrängen, und atmete so schnell und heftig, als läge sie in den Wehen.
Der Verianer tastete sich verbissen weiter und meinte endlich, einen Fremdkörper zu fühlen. Das Messer rutschte ab. Ein Beben ging durch das Bein und den ganzen Körper. Caitlin schrie, und der Prinz keuchte laut auf. Dessen Gesicht war völlig verzerrt, und er hatte die Augen jetzt ebenfalls zusammengekniffen. Schweißtropfen oder Tränen liefen ihm übers Gesicht, der Gürtel in seinem Mund wippte.
Der Gelehrte schluckte und blinzelte sich Schweiß aus den Augen. Seine Hände zitterten leicht. Fast gegen seinen Willen führte er das Messer erneut in die Wunde, tastete mit dem Finger an der Klinge entlang. Sehen konnte er nur noch Blut. Der Körper des Prinzen bog sich durch, das Bein blieb jedoch ruhig. Er hörte Caitlin schniefen, und das gepresste Stöhnen des Prinzen hallte wie Donner in seinen Ohren.
Da war es wieder, das harte Etwas! Behutsam schob er das Messer darunter, legte den Finger darauf und zog vorsichtig. Er starrte auf das Blut, das aus der Wunde floss, und dann auf die Klinge. »Bei allen Göttern! Hier ist sie! Ich glaub es nicht! Sie ist draußen. Rhonan, lebt Ihr noch?« Der Verianer ließ sich nach hinten fallen, spürte ein Zittern überall und seufzte erleichtert.
Caitlin sackte zusammen, öffnete zaghaft die Augen und fragte: »Ist es überstanden?«
Der Gelehrte raffte sich wieder auf. »Ja, Prinzessin! Jetzt muss nur noch genäht werden. Das kann ich aber allein.«
Sie nickte erleichtert und drehte sich zu Rhonan um, um sich dessen Dank abzuholen. Der hatte immer noch die Augen geschlossen, war in Schweiß gebadet und nahm gerade mit unsicheren Händen den Gürtel aus dem Mund. Die Prinzessin floh, so schnell sie konnte, aus dem Raum.
8. Kapitel
R honan erwachte wie so häufig in Schweiß gebadet, aber diesmal war kein Alptraum dafür verantwortlich. Lediglich der Dampf der Quelle hatte sich über ihn gelegt. In seinem Knie brannte und bohrte es, aber Wundschmerz verging, und diesen Schmerz begrüßte er, verhieß er doch Linderung für die Zukunft. Auch sein Kopfschmerz war auf das für einen Trinker übliche Morgenmaß abgeebbt. Ein paar Schluck, und er würde vergehen. Eigentlich war es ein richtig guter Tagesbeginn. Er hatte tief, traumlos und auch ungestört geschlafen, was nur bedeuten konnte, dass die Nebelhexen den Stein nicht durchdringen konnten. Vielleicht sollte er die Mine als Wohnort in Betracht ziehen. Ein Wolf als Nahrung hin und wieder, kurze Besuche in Kairan, um Branntwein zu erstehen – mehr benötigte er nicht. Sein Blick glitt durch die Höhle und fand keinen Beutel. Aber zumindest Hose und Stiefel hatte der Gelehrte ihm dagelassen. Unter leisem Ächzen zog er beides an und band auch zwei
Weitere Kostenlose Bücher