Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
nicht der geringste Anlass zum Jubeln, sondern es steht viel schlimmer, als Ihr es Euch denken könnt. Der Held, auf den wir unsere Hoffnung setzten und unsere Zukunft bauten, ist ein Taugenichts, ein ständig betrunkener Krüppel aus der Gosse, der sich zudem auch noch ganz offensichtlich weigert, seine Aufgabe zu erfüllen. Bevor er sich ihr stellt, versteckt er sich lieber im Wintergebirge. Kälte und Hunger zieht er seiner Verantwortung offensichtlich vor.« Sie lachte freudlos auf, stützte die Hände auf den Schreibtisch und sah den Verianer durchdringend an. »Doch selbst wenn er sich irgendwann entschlösse, seine Pflicht zu erfüllen, was sollte dieser jammervolle Junge denn schon vollbringen können?«
In seinem Gesicht spiegelten sich jetzt Fassungslosigkeit und Entsetzen. »Das ist nicht wahr«, keuchte er und klammerte sich an den Tisch, als hätte er plötzlich Angst, vom Stuhl zu fallen. »Das kann nicht wahr sein. Die Prophezeiung …«
»Oh, Meister, ich wünschte wirklich, es wäre anders, aber die Berichte aus dem Norden sind glaubwürdig. Prinz Rhonan scheint – ich will es einmal ganz freundlich ausdrücken – überhaupt nicht geeignet zu sein, irgendjemanden zu führen oder gar zu retten. Lediglich bei Schankwirten und Talermädchen ist er gern gesehen.«
Dem Gelehrten fehlten die Worte. Schweigend starrte er die Königin an, und die fuhr fort: »Ihr könnt Euch vorstellen, was das bedeutet? Wollt Ihr Euch und meine Tochter einem Trunksüchtigen anvertrauen? Wollt Ihr die Rettung der Völker in die Hand eines Mannes legen, der offensichtlich nicht einmal mit sich selbst fertig werden kann? Ihr müsst die Schriften übersetzen. Geben sie uns doch vielleicht einen Hinweis darauf, wie wir die Quelle auch ohne die Siegelerben wieder schließen könnten. Ich bitte Euch, … nein, ich beschwöre Euch, Meister: Gebt Euer Bestes, und gebt es schnell!«
Er nickte, immer noch unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen.
»Habt Ihr denn wirklich noch gar nichts herausfinden können, was uns in unserer Not weiterhelfen könnte?«
Ihre Stimme klang flehend, aber er schüttelte nur den Kopf.
Ayala holte tief Luft und nickte entschlossen. »Vergesst die Prophezeiung! Ich fürchte, es liegt an Euch und an uns, die Welt zu retten, denn der Schatten breitet sich immer schneller aus. Camora zieht seine düsteren Kreise immer enger, steht schon vor den Toren Mar’Elchs. El’Maran wird nicht mehr lange standhalten können. Ist es gefallen, werden sich auch die verbliebenen Reiche Camora unterwerfen. Es bleibt uns nur noch wenig Zeit!«
»Seid versichert, ich werde tun, was in meiner Macht steht.«
»Ich weiß, ich weiß. Sagt, wenn Ihr Hilfe benötigt!«
Sie wandte sich ab, drehte sich aber noch einmal um. »Fast hätte ich es vergessen: Meister Cato, sagen Euch dunkelgrüne Augen zufällig etwas?«
Er sah gedankenverloren vor sich hin und murmelte geistesabwesend:
»Augen wie funkelnder Edelstein: Du bist betört und ganz von Sinnen.
Augen wie das unendliche, tiefe Meer: Was du auch tust, es wird dich verschlingen.
Du willst entrinnen, doch es geht nicht mehr.
Wen die Augen erblicken, geben nimmer sie her.
Und die Trauer des Königs, sie schmolz dahin
in den dunkelgrünen Augen seiner neuen Königin.«
Er zuckte verlegen die Achseln. »Ein wahrhaft scheußliches Gedicht. Verzeiht! Es war nur das Erste, was mir in den Sinn kam. Ich denke gern weiter darüber nach, wenn Zeit dafür ist.« Er nickte freundlich und wandte sich wieder seinen Schriften zu.
Ayala aber starrte ihn unverwandt an. »Dieses Gedicht … wen beschreibt es?«
»Palema, die erste Großkönigin da’Kandars! Sie war die zweite Frau des Königs und soll so schön wie klug und stark gewesen sein.«
»Palema? Sagtet Ihr, die erste Großkönigin?« Die Königin schwankte leicht.
»Ja, ja!« Dem Weisen entging ihr Entsetzen. Er starrte schon völlig gebannt auf das Pergament, das vor ihm lag. Sollte er tatsächlich, konnte … konnte dieses Wort Palema bedeuten?
Ayala achtete genauso wenig auf die plötzliche Aufgeregtheit des Weisen. Seit Tagen suchten ihre Priesterinnen nach Hinweisen auf grüne Augen im Stammbaum des Prinzen. So weit zurück waren sie natürlich nicht gegangen. Grüne Augen und Ansätze von Magie … hier waren in der Tat Mächte beteiligt, mit denen sie nicht gerechnet hatte. Ihr weiteres Vorgehen musste sie überdenken, wenn derartige Zauberkräfte im Spiel waren. Grußlos und nachdenklich verließ sie
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