Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
Die erst ab Brusthöhe sichtbaren schwarzen Rüstungen wirkten dadurch nahezu gespenstisch, vor allem, weil der Nebel dazu noch fast jedes Geräusch verschluckte. Vereinzelt war das hohe Jaulen eines Wolfes zu hören. So weit das Auge blicken konnte, wogte ein schwarzes Meer auf Mar’Elch zu. Mittendrin wurden immer mehr Belagerungstürme und Katapulte sichtbar. Ihre gewaltige Größe ließ sogar den kampferprobten Arneke Partos die Stirn runzeln. »Mögen die Götter uns beistehen«, murmelte er tief beeindruckt.
Hatte bis vor kurzem noch atemlose Stille auf dem Wehrgang geherrscht, waren jetzt immer mehr furchtsame Stimmen, Klagen und Jammern zu hören. Händler, Köche, Diener und Stallburschen sanken auf die Knie, um laute Gebete zu sprechen. Gardisten sicherten gut sichtbar die Abgänge, um jeden Gedanken an Flucht im Keim zu ersticken.
Die Angst ging um unter den zwangsverpflichteten Kämpfern, ließ ihre Hände zittern und ihre Knie weich werden, ließ ihre Herzen rasen und ihren Schweiß fließen.
Sie hatten sich tagelang im Übungskampf erprobt, hatten sich gegenseitig angefeuert, gescherzt und grinsend über Muskelkater geflucht. Viele hatten den Bewohnern gegenüber Stolz empfunden, die drei Tage lang in einem nicht enden wollenden Zug die Stadt in Richtung Berge verlassen hatten. Sie hatten den Alten und Kranken Mut zugesprochen, die nicht reisen konnten und sich in den Schutz der Burg zurückgezogen hatten. Sie hatten ihre Stadt verteidigen wollen, damit die Ängstlichen, die Frauen, die Kinder, die Alten und Gebrechlichen in ihre Häuser zurückkommen konnten. Noch ihren Kindern und Kindeskindern hatten sie erzählen wollen, wie sie ihre Stadt gegen die heranstürmenden Horden verteidigt hatten, wie sie ihre Stadtmauer geschützt hatten, wie sie ihre Feinde vernichtet hatten. Geträumt hatten sie von großen Heldentaten. Mit tapferen Herzen und ungewohnten Waffen in willigen Händen hatten sie ihre zugewiesene Stellung auf dem Wehrgang eingenommen und hatten ihren Nachbarn aufmunternd und siegesgewiss zugelächelt.
Aber jetzt sahen sie zum ersten Mal die Schwarze Horde … und alles war vergessen. Stolz wurde von Furcht gefressen.
Der Feind kam, und er kam zahlreicher, als jeder Einzelne von ihnen es sich jemals vorgestellt hatte. Und der Feind kam jetzt, nicht morgen oder übermorgen – keine Zeit, noch einen Brief zu schreiben, keine Zeit, noch zu fliehen, keine Zeit mehr zu leben.
Canons Blick blieb an den Leitertürmen kleben.
Krieger, die große Schilde zum Dach gruppiert hatten, zogen und schoben, und andere warteten schon auf dem höchsten Deck, um die Brücke auf die Mauer krachen zu lassen, sobald sie nahe genug waren. War der Weg erst bereitet, würden Unzählige den Turm besteigen und die Mauer stürmen.
»Grob geschätzt sind es weit mehr als viertausend«, stellte er sachlich fest. »Ich würde eher an fünf denken. Die Truppen aus Ten’Shur sollen auch schon im Anmarsch sein. Den äußeren Ring werden wir nicht lange halten können. Richtet die Katapulte in erster Linie auf die Leitertürme aus. Pechkugeln!«
»Mein Prinz …«, begann Partos.
Canon unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Geste: »Ich weiß, Arneke. Schau nicht so geringschätzig! Wenn du jetzt behauptest, keinerlei Angst zu verspüren, nenne ich dich einen Lügner. Lass die Schwerter klingen!«
Sein Adjutant gab ein Zeichen, und überall auf dem Wehrgang schlugen die Gardisten daraufhin im Gleichklang mit ihren Schwertern auf die Schilde.
»Dies ist unsere Stadt«, brüllte Canon.
Die Krieger in seiner Nähe nahmen den Ruf auf, gaben ihn weiter an die nächsten. Es klang wie ein unendliches Echo, als der Ruf von Krieger zu Krieger die Stadtmauer entlangeilte.
»Dies ist unsere Mauer!« … »Sie schützt unsere Frauen!« … »Sie schützt unsere Kinder!« … »Sie schützt unsere Eltern!«
Die ersten heiseren Stimmen der Bürger fielen in die Rufe ein.
»Wir halten die Mauer!« … »Wir werden nicht weichen!« Canon lächelte leicht, denn immer lauter, fester und zahlreicher wurden die Stimmen. Erstes Waffenklirren der Bürger mischte sich darunter.
»Dies ist meine Stadt!«
»Meine Stadt … meine Stadt … meine Stadt …«, hallte es hundert-, tausendfach vom Wehrgang.
»Dies ist meine Mauer. … Ich stehe hier für El’Maran … für Mar’Elch … für meine Königin … für meinen Vater … meine Mutter … meine Frau … meinen Sohn … meine Tochter!«
Mittlerweile klang es wie
Weitere Kostenlose Bücher