Das Wahre Spiel 02 - Der Nekromant
zwanzig Jahren hatten wir keinen einzigen Schüler, der Nekromant wurde.«
»Es gibt Talente, die ich bevorzugt hätte«, erwiderte ich. Chance betrachtete bescheiden seine Füße und schwieg. Diese Tatsache machte mich mehr als alles andere vorsichtig. Ich hatte gerade sagen wollen, daß Nekromantie nicht mein einziges Talent sei, entschied mich aber, das Thema auf sich beruhen zu lassen.
»Ich glaube nicht einmal, daß ich einen Nekromanten als Spielfigur besitze«, fuhr Gervaise mit gerunzelter Stirn fort. »Laß mich mal nachsehen …« Und fort war er, durch die Tür ins Klassenzimmer verschwunden. Ich folgte ihm, wie es die Höflichkeit zu gebieten schien. Er wühlte in der alten Truhe, die die Spielfiguren enthielt, die selbst mit Eis bedeckt war und summte, als ihr innerer Mechanismus arbeitete, um die Kälte darin zu bewahren. »Waffenträger«, sagte er. »Eine große Anzahl Waffenträger. Seher, Wandler, Ranzelmänner. Unterherolde, ein ziemliches Aufgebot davon. Geringere Figuren: Totem, Talisman. Fetisch. Hier ist ein Afrit. Ich habe ganz vergessen, daß ich das überhaupt besitze. Und hier ein ganzes Sortiment Schlangen, Drachen, Feuerdrachen, Eisdrachen, alle in einer Schachtel. Nun ja … Aber kein Nekromant. Ich glaube, ich besaß nie einen.«
Ich nahm eine Handvoll Spielfiguren, ließ sie aber rasch fallen, als mir die Kälte in die Finger biß. Sie besaßen die gleiche Größe wie die, die ich so heimlich bei mir trug, waren vielleicht aber weniger ausgefeilt. Unter der Eisschicht konnte ich das nicht genau erkennen. »Spielmeister Gervaise«, fragte ich, »woher habt Ihr die Figuren? Ich habe nie danach gefragt, als ich noch Schüler war, aber woher kommen sie eigentlich?«
»Die Spielfiguren? Oh, es gibt eine Domäne von Zauberkünstlern, irgendwo im Westen, wo sie hergestellt werden. Die Händler bringen sie mit. Die meisten sind Geschenke, Gratiszugaben, wenn wir Vorräte kaufen.
Dieses Sortiment Schlangen habe ich bekommen, als ich ein paar Werkzeuge für den Stall kaufte. Geschenke, wie ich schon sagte.«
»Aber wie können sie sie einfach weggeben? An jeden x-beliebigen? Wie werden sie kühl gehalten?«
Gervaise schüttelte den Kopf. »Nein, nein, mein Junge. Sie geben die Figuren nur an Spieler ab. Wer sollte sie auch sonst wollen? Sie tun es, um den Handel anzukurbeln. Andere Leute erhalten andere Geschenke. Einige Kaufleute, die ich kenne, bekommen Gewürze oder Dinge aus den nördlichen Urwäldern. Alles, um den Handel anzukurbeln.« Er tätschelte die alte Truhe und ging mir voran zu Chance zurück. Der Weinpegel in der Flasche war unübersehbar niedriger als zuvor, und ich lächelte. Chance schaute mich mit verständnislosem Blick an, als wollte er sagen ›Wer? Ich etwa?‹, doch ich lächelte trotzdem weiter.
»Ich höre Mertyns Schritt auf der Treppe«, sagte ich. »Ich verlasse Euch nun, Spielmeister Gervaise. Ich komme noch einmal bei Euch vorbei, bevor ich abreise.« Und mit vielen Verbeugungen suchten wir unseren Weg nach draußen, zur Treppe. Ich sagte zu Chance: »Du warst sehr schweigsam.«
»Gervaise ist ziemlich redselig«, erwiderte er. »Zu seinen Kollegen, den Händlern, den Bauern … Du kannst dir sicher sein, daß alles was du ihm erzählst, morgen schon dreimal in der Schulstadt die Runde gemacht hat.«
»Aha«, sagte ich. »Nun, wir haben ihm nicht viel Stoff geliefert.«
»So ist es«, stimmte er kauzhaft zwinkernd zu. »Wie es oft auch am besten ist. Du gehst jetzt zu Mertyn, Bursche, und ich mach mich ab in die Küche, um zu sehen, ob man dort ein paar Krümel fürs Mittagessen zusammenkratzen kann.«
So klopfte ich an Mertyns Tür und wurde von ihm selbst hereingelassen. Ich wußte nicht recht, was ich sagen sollte. Ich traf ihn zum ersten Mal an diesem Ort, seitdem ich erfahren hatte, daß wir beide thalan waren. Ich habe gehört, daß in fernen Gegenden Menschen leben, die innig mit ihren Vätern verbunden sind. Bei uns ist das oft bei Bauern so. Bei meinem Freund Yarrel, zum Beispiel. Nun, zwischen Spielern besteht dieselbe Bindung zwischen thalan, den männlichen Nachkommen und dem Bruder der Mutter, oder zwischen weiblichen Kindern und der Schwester der Mutter. Mertyns Beziehung zu mir war in diesem Haus jedoch niemals erwähnt worden.
Er löste das Problem für mich. »Thalan«, sagte er und nahm mir den Umhang von den Schultern. »Komm, gib mir deinen Hut und deine Maske. Puh! Was für eine scheußliche Aufmachung! Aber sehr klug, sie zu
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