Das Wahre Spiel 03 - Das dreizehnte Talent
konzentriert ausgestreckt, ihre Persönlichkeit wie eine papierdünn abgeschliffene Messerschneide, imstande, sich bis zu den geheimsten Gedanken anderer durchzuschneiden und sie zu LESEN.
Hier lag Wafnor, der stämmige Tragamor, klaräugig und lächelnd, dessen bloße Gestalt bereits die Kraft ausdrückte, mit der er Dinge BEWEGEN konnte – Berge, falls nötig. Er hatte dies einmal für mich getan. Dann Shattnir, androgyn, kalt, herausfordernd, bedrohlich, die wetteiferndste von allen, die Dornen ihrer Magierkrone funkelnd vor gespeicherter Kraft. Neben ihr lag die in Roben gehüllte Gestalt von Dealpas, der Heilerin, das leidende Gesicht verborgen, verzehrt von Schmerz, sie, die sie ›gepflücktes Blatt‹ nannten. Und der letzte von denen, die ich kannte, Tamor, der Waffenträger, der Schwebende Tamor, auf den Fußspitzen stehend, als wolle er sich gleich in die Lüfte erheben, Großvater Tamor, stark und verläßlich, flink im Urteil, rasch im Handeln. Diese sieben kannte ich, kannte das Gefühl, das ihre Persönlichkeiten in mir erzeugten, den Tonfall ihrer Stimmen, das Gefühl ihrer Körper, mit dem jeder von ihnen sich daran erinnerte. Ich konnte, wenn ich mich konzentrierte, beinahe das Muster jedes einzelnen in meinem Kopf entstehen lassen, ohne sie selbst zu rufen.
Es gab fünf weitere, die ich noch nicht gerufen hatte: Sorah, die Seherin, das Gesicht von der Falterflügelmaske beschattet, Kennerin der Zukunft, Visionärin. Der flinke Schildwächter und Feuermacher Buinel, beschäftigt mit Protokollen und Eigentum, voller Sorge, den flammenden Schild hoch erhoben. Hafnor, der Portierer, war unter ihnen, mit Flügeln an den Fersen, flüchtig wie Quecksilber, imstande, sich in einem Augenblick von einem Ort zum anderen zu teleportieren. Und schließlich Thandbar, der Gestaltwandler, dessen Talent auch das meine war, der listige Thandbar mit seinem Tierkopfhelm und dem Mantel aus Fellen. Alle elf lagen sie im Gras.
Und noch einer.
Einer, der nicht unter Farbe verborgen war wie die Spielfiguren. Ein eisblauer. Windlow. Ich hatte ihn nicht oft in die Hand genommen, und es gab Gründe dafür, aber jetzt, da ich neben den heißen Quellen saß, nahm ich ihn und hielt ihn aus Langeweile und Einsamkeit, aus Sehnsucht nach einem Freund, in der Hand. Er stieg in meinen Kopf wie guter Wein, und wir genossen eine lange Weile friedlichen Beisammenseins, während ich meine Beine ins Wasser baumeln ließ und an nichts dachte.
Dann war mir, als sagte jemand in überraschtem Tonfall: »Aah.« Meine Gedanken vernebelten sich, während Bilder durch meinen Kopf rasten, eines ins andere verschwamm. Mein Körper saß kerzengerade und begann, ganz rasch zu atmen; dann war es vorüber, und ich hörte Windlow in meinem Kopf sagen: »Ich hatte eine Vision, Peter. Hast du sie gesehen? Konntest du sie einfangen?«
Und ich sagte, wie zu mir selbst (wie es ja auch war): »Eine Vision, Windlow? Eben gerade? Ich konnte nichts erkennen. Nur Farben.«
»Es ist schwierig zu erkennen«, erwiderte er. »Dein Kopf ist anders als meiner. Er arbeitet nicht auf dieselbe Art. Wie seltsam, daran zu denken, daß man selbst einmal anders dachte! Es ist, als lebe man in einem neuen Haus und erinnere sich an das alte. Sehr reizvoll, dieser Unterschied. Ich könnte hier jahrelang herumwandern … Doch genug! Die Vision … Ich sah dich und Seidenhand. Und eine Gegend, weit oben im Norden, die man … ›Auge des Windes‹ nennt. Sehr wichtig. Wo ist Seidenhand?«
»Himaggery und Ihr habt sie nach Xammer geschickt.« Das stimmte. Es war nach der großen Schlacht von Bannerwell gewesen, vor gut einem Jahr. Obwohl Seidenhand schon lange gewußt hatte, daß ihre Schwester Dazzle und ihr Bruder Borold ihres Mitleids unwürdig waren, verursachte das Ende in Bannerwell, das Dazzle lange Gefangenschaft und Borold den Tod brachte (denn er starb dort an der Burgmauer, wo er sich, Dazzles Anerkennung heischend, bis zum Schluß postiert hatte), ihr mehr an Kummer, als sie ertragen konnte. Sie machte Himaggery und dem alten Windlow (das alles geschah lange, bevor Windlow von den Händlern entführt wurde) bittere Vorwürfe, und die beiden schickten sie fort nach Xammer, um dort Spielmeisterin in Vorboldhaus zu werden. Sie war gegangen, um Frieden zu finden und, wie ich ihr damals gesagt hatte, Langeweile. Ich hatte ihr einen brüderlichen Kuß gegeben und ihr gesagt, daß sie es bereuen würde, mich verlassen zu haben. Nun gut, wer weiß. Vielleicht hatte sie
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