Das Wahre Spiel 03 - Das dreizehnte Talent
Chance blickte immer öfter in ihre Richtung. Wir waren noch nicht so nahe, daß uns der Unterherold und der Examinierer hätten LESEN können, und ich wollte den ersten Zusammenstoß herbeiführen, noch ehe sie versuchten, mich zu LESEN und merkten, daß es nicht ging. Chance und ich hielten und taten so, als gingen wir in die Büsche, wobei wir sie aber heimlich durch das Laub beobachteten. Als die Entfernung zwischen uns sich etwas vergrößert hatte, kamen wir wieder unschuldig hervor. Wenn sie wirklich vorhatten, die Hexe zuerst ziehen zu lassen, würde ihr Zug bald erfolgen.
Und so war es.
Wir sahen, wie sie die Pferde zügelten, sahen die ausgiebig gespielte Bestürzung, mit der die Hexe ihre Kleider durchsuchte, als hätte sie etwas verloren. Ei, ei, was hatte sie bloß auf der Straße verloren? Etwas Wichtiges … O ja, ausdrucksstarke Gesten des Verlustes und der Aufregung; ebenso heftige Gesten zu den anderen, weiterzureiten, weiter, während sie selbst zurückreiten und dann wieder zu ihnen aufschließen würde. »Beobachte sie«, sagte ich zu Chance. »Sie wird gleich bei uns sein, gerade so, als suche sie etwas auf der Straße.«
»Wie sieht sie noch einmal aus?« keuchte Chance.
»Schwarze Fingernägel, schwarzgeschminkte Augen, eine Figur wie ein Kopfkeil und Haare wie Drähte. Gib acht, Chance. Die verspeist dich zum Frühstück.«
»Es liegt wohl an dir, das zu verhindern, Junge.«
Als sie etwa hundert Schritte von uns entfernt war, wandte sie sich uns zu, mit strahlendem Lächeln. Götter des Spiels, was war sie schön! Mein Mund klappte fast auf, aber dann suchte ich nach dem Muster, das mich klarsehen ließ, selbst als meine Finger in dem Beutel nach Wafnor forsteten. Weit vorn auf der Landstraße war das Pferd des Waffenträgers nun reiterlos. Die Hexe schürzte ihre Lippen zu einer niedlichen Schnute.
»O wertester Wandler, ich bitte Euch um Eure Hilfe! Ich weiß, daß Wandler ihre Augen so scharf einstellen können wie die eines Falken, der damit eine Münze meilenweit unter ihm in einer Schlucht erkennt! Könntet Ihr für mich nach dem Armband suchen, das ich irgendwo hier verloren habe, vielleicht dort drüben, am Rande des Wäldchens?«
Dann wandte sie sich zu Chance, warf ihm ihr Lächeln zu wie das Feuer einer Fackel. Ich dachte, ich sähe ihn schmelzen, doch dann entdeckte ich die Kerben in seinen Wangen, wo er sie zwischen die Zähne eingesogen hatte. »Bauer«, sagte die Hexe, »würdest du deinem Herrn helfen, mein Armband zu finden und mit zu den Bäumen gehen … Was er sieht, kannst du bringen und meinen Dank dafür erhalten, genau wie er …«
Chances Augen traten fingerbreit aus den Höhlen, und man hätte glauben können, er fiele fast vom Pferd. In der Zwischenzeit lächelte ich, verbeugte mich, Verlangen in ihre Richtung atmend, während ich Didir rief, damit sie sich in den Kopf der Hexe setzen und mir erzählen konnte, was sie plante. Ich wußte, daß sich der Waffenträger irgendwo über uns befinden mußte, bereit, sich fallenzulassen, sobald wir zwischen den Bäumen auftauchten. Ich flüsterte ein Stoßgebet um genug Kraft, das auszuführen, was ich beabsichtigte, und wandte meine Augen dann dem Wegrain zu, als die Hexe näher kam. Unter meinem Finger erwachte Wafnor zum Leben und griff zwischen die Äste. Ich war schon beinahe im Wald angekommen.
»O lieblichstes Wesen!« rief ich. »Hier … Könnte es sich an diesem Ast verfangen haben? Seht doch das Funkeln dort, wo die Sonne darauf scheint, nicht so strahlend wie Eure Schönheit, aber hell genug, um es zu zieren …«
Hexen sind meistens einfältig. Sie entwickeln ihr Talent in der Regel recht früh, und die Möglichkeit, andere zu betören, führt sie in ihren jungen Jahren zu rasch zum Erfolg. Jedenfalls sagte das Spielmeister Gervaise. Diese Hexe hier war ein Musterbeispiel für seine Worte. Sie eilte mir hinterher, noch immer schillernd und betörend, was das Zeug hielt. Es erinnerte mich an Dazzle und natürlich auch an Mandor, und als ich mich nach ihr umdrehte, mußte sie das in meinem Gesicht gelesen haben, denn sie sprang mit einem Wutschrei auf mich zu, die schwarzen Fingernägel auf meine Augen gerichtet. Ich hatte keine Zeit zu überlegen. Ich packte ihre Handgelenke, duckte mich, machte eine Drehung und schleuderte sie über meinen Kopf nach hinten, wo sie mit einem lauten Keuchen, als die Luft aus ihr herausgepreßt wurde, auf dem blätterbedeckten Boden landete. Dann schaltete Didir rasch
Weitere Kostenlose Bücher