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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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Lichter der Dorfstraße sah, überlegte ich es mir anders. Es gab niemanden im Dorf, mit dem ich reden wollte. Außer Ira fiel mir überhaupt niemand ein, dem ich etwas zu sagen gehabt hätte.
    Ich kehrte um. An dem kleinen Sandstrand, der sich neben einem verwitterten Steg befindet, an dem nur noch ein ebenso verwittertes Ruderboot lag, zog ich meine Schuhe aus, krempelte mir die Hose hoch und watete ins seichte, grünliche Wasser. Ich hatte keine Ahnung, wie ich auf diese Idee gekommen war. Das Wasser war eiskalt, aber nach dem ersten Schreck hatte es eine belebende Wirkung, wie eine kalte Dusche nach einer großen Anstrengung. Einige Enten glitten neugierig aus dem Schilf heran. Ich watete auf sie zu und verscheuchte sie spielerisch. Fast hätte ich gelacht, weil sie plötzlich aufschraken und gemeinsam die Flucht antraten.
    Als ich zum Ufer zurückging, war jede Kälte in meinen Gliedern verflogen. Auf dem Deich, in der Dunkelheit nur schemenhaft zu sehen, stand der Junge. Er hatte sich in ein riesiges blaues Tuch gewickelt, als wollte er tatsächlich schwimmen gehen. Immerhin trug er eine lange Hose und feste Schuhe.
    Obschon ich mich bei einer Dummheit ertappt fühlte, winkte ich ihm zu, recht freundlich, wie ich fand, doch er drehte sich blitzschnell um und stürmte auf der anderen Seite den Deich hinunter.

8. Dezember
    Der Fischreiher war wieder da. Von meinem Fenster sah ich, wie er über dem See kreuzte. Er flog seine Kreise und stieß dann und wann ins Wasser hinab, um sich einen Fisch zu fangen. Ich konnte nicht sehen, ob seine Jagd erfolgreich war. Manchmal schien er auch so hoch fliegen zu wollen, dass er beinahe in den Wolken verschwand.
    Schließlich ließ er sich irgendwo im Schilf nieder, und ich zog mich an und lief auf den Deich hinauf. Wäre mein Vater nicht so ein illiterater Mensch gewesen, hätte er wenigstens ein Lexikon im Haus gehabt. Aber Bücher gelesen hatte er nur, wenn sie mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun hatten. Gehörten Fischreiher nicht zu den Zugvögeln? Was würde der Vogel tun, wenn der Winter strenger wurde und der See zufror? Vielleicht mussten dann ein paar Männer aus dem Dorf kommen und ihn füttern, damit er nicht verhungerte.
    Ich konnte sein Versteck im Schilf nicht finden, sah auch nicht mehr, dass er über den See dahinglitt. Nur ein paar Enten und Haubentaucher trieben auf dem Wasser. Obwohl niemand in der Nähe war, widerstand ich der Versuchung, meine Schuhe auszuziehen und durch das Schilf zu streifen. Stattdessen ging ich ins Dorf. Es war kaum jemand auf der Straße, aber das hatte ich hier auch noch nieanders erlebt. Argwöhnisch beäugt von einer Verkäuferin mit kurzen blonden Haaren und einer seltsam rosigen Gesichtsfarbe kaufte ich ein paar Vorräte: Brot und Kaffee und einige Dosen. An meinen Einkäufen konnte man leicht ersehen, dass mir an meiner Verpflegung nicht sonderlich viel gelegen war. Nicht einmal nach dem Regal für Schokolade schaute ich mich um, als interessierte es mich gar nicht, ob das Kontingent der berühmten Graf-Schokolade größer war als das anderer Marken.
    Die Verkäuferin gab sich sehr viel Mühe, mir zu zeigen, dass sie mich nicht kannte und mich wie einen x-beliebigen Fremden behandelte, dabei war ich sicher, dass sie mein Bild in den Zeitungen gesehen hatte. Ich würde die hämischen, bitteren Schlagzeilen niemals vergessen. »Der Pleitier« oder »Bankrotteur« hatten sie mich genannt. In allen Nachrichtensendungen waren meine letzten Minuten in meinem Büro gezeigt worden, wie ich Iras Bild von meinem Schreibtisch nahm, ein paar Akten einsteckte und das Zimmer verließ. Draußen auf der Straße hatten eine Menge Leute protestiert, Leute, die vor ein paar Tagen noch meine Angestellten gewesen waren und die sich nun von mir betrogen glaubten.
    Es kostete mich keine Anstrengung, die Verkäuferin mit meinem Lächeln so sehr einzuschüchtern, dass sie heftig errötete. Als ich wieder auf der Straße stand, hatte ich beinahe das Gefühl, sie würde zum Telefonhörer greifen und einige Zeitungen anrufen, um mein Versteck zu verraten, aber so interessant war ich für die Journalisten nicht mehr, dass sie bis hierher in diese abgelegene Gegend hinausfahren würden.
    Dann ging ich in die Kirche hinüber. Ira hatte sich immer für Kirchen und Friedhöfe begeistern können. Siewar eine Kirchentouristin; gleichgültig, wohin wir fuhren, ob Paris, Rom oder irgendeine andere, kleinere Stadt, lief sie zuerst in die Kirche, um eine Kerze

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