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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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aufzustellen. Auch auf Friedhöfen konnte sie Stunden verbringen. Ich begleitete sie fast nie auf diesen Streifzügen, doch ich ahnte, was sie tat, wenn sie zwischen den Gräbern umherlief. Sie suchte sich ein Kindergrab aus, das schönste Grab des Friedhofs, und begann mit ihrem toten Sohn zu sprechen.
    Die Kirche war geöffnet, eine schlichte, weiß verputzte, protestantische Dorfkirche. Die Krippe neben dem Eingang, die ich zuerst entdeckte, irritierte mich für einen Moment. Das Kind lag noch nicht in der Krippe, aber sonst hatte sich schon das ganze biblische Personal für die heilige Nacht eingefunden. Auch der Stern stand schon über dem ärmlichen Stall, in dem Maria und Josef angekommen waren.
    Ich war lange nicht mehr in einer Kirche gewesen, und mir fiel erst nach ein paar Momenten ein, dass die Adventszeit längst begonnen hatte. Die Gläubigen warteten tatsächlich auf die Ankunft eines Messias. Meine Weihnachtszeit hatte immer Anfang Mai begonnen; da hatten wir unsere Pläne festgelegt, hatten neue Weihnachtsmänner aus Schokolade entworfen, uns die Entwürfe für die Adventskalender angesehen oder uns ganz besondere Pralinenmischungen ausgedacht. Im Juni war die Weihnachtszeit schon wieder zu Ende gewesen.
    Ich stellte meine Einkäufe ab und setzte mich in die letzte Reihe. Über die Stille, die in Kirchen herrscht, hatte ich mich schon als Kind gewundert; es war eine erhabene, besonders eindringliche Stille, auch fiir jemanden, der gar nicht gläubig war. Selbst das einfache Ein- und Ausatmen bekam eine andere Bedeutung. Schon zu einer Zeit, als ichmich noch für jung hielt, hatte mich manchmal wie ein schwarzer Blitz der Gedanke an den Tod angefallen, an den letzten Atemzug. Wie ist es, wenn man das letzte Mal Luft in seine Lungen saugt? Spürt man das Austatmen noch? Ist es, als würde alle Last und Qual von einem abfallen, oder ist es nichts anderes als der ewige, Furcht erregende Sturz durch die Finsternis?
    Auch das Innere der Kirche bezeugte die einfache, bäuerliche Gegend, in der sie sich befand: Lediglich ein schmuckloses Holzkreuz ohne Corpus hing über dem Altar.
    Ich erhob mich langsam. Eine Kerze anzuzünden wäre eine gute Idee, dachte ich, für Martin, für Ira und vielleicht auch für mich selbst. Doch im nächsten Augenblick erhob sich ein wildes Rauschen durch die Kirche, so dass ich vor Überraschung auf die Bank zurückfiel. Das tiefe Rauschen wurde zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen, und dann erkannte ich erst, was passiert war.
    Das Dröhnen ging in einzelne, unterscheidbare Töne über, die sich zu einer kantigen Melodie zusammenfügten. Jemand probte auf dem Orgelboden und griff so vehement in die Tasten, wie er es sich in einem Gottesdienst am Sonntag niemals gestatten durfte.
    Ich kannte das wilde, ungezähmte Lied nicht, aber ich glaubte in ihm manches von der biblischen Geschichte wiederzufinden, wie sich vor Moses und den Seinen das Rote Meer teilte, wie die Mauern vor Jericho zusammenbrachen oder, als die Orgel stillere Regionen ansteuerte, wie Jesus mit seinen Jüngern über den See Genezareth fuhr. An viele Szenen aus der Bibel konnte ich mich nicht mehr erinnern.
    Plötzlich jedoch brach das Spiel ab. Ich hörte, wie jemand,anscheinend gänzlich unzufrieden über sein Spiel, den Deckel der Orgel zuwarf und sich über mir bewegte. Schwere Schritte steuerten auf eine winzige Holztreppe in einem hinteren Winkel der Kirche zu.
    Wen erwartete ich zu sehen? Einen alten, schwergewichtigen Organisten oder einen blassen, hochgeschossenen Schüler, der hier seine Übungsstunden abhielt?
    Eine Frau stieg die Treppe hinab. Ich sah schwarze Schuhe, Jeans und eine schwarze Lederjacke, die schon ein wenig abgewetzt war. Dann traf mich eine kurze Atemnot. Nicht dass ich die Organistin gekannt hätte – es war eher der Hauch von Schönheit, der mich ergriff. Die Frau war auf eine eigentümliche, hintergründige Weise schön. Ihre Haare waren flammend rot, eine richtige Hexenfarbe, und ihre Augen lagen hinter einer Nickelbrille verborgen, wie sie vielleicht vor zwanzig Jahren modern gewesen war. Sie war auch nicht mehr ganz jung, um die vierzig Jahre, schätzte ich, und doch ging von ihr etwas aus, das jeden Mann, dessen Herz noch nicht völlig versteinert war, irgendwie berühren musste.
    Die Frau bemerkte mich erst, als sie bereits drei Schritte in das Kirchenschiff hineingetreten war. Einen langen Moment hielt sie inne und schaute mich an. Sie war nicht sehr groß. Ihr Mund formte

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