Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
hörte er hoch über sich einen Kranic h schrei. Er glaubte schon, es wäre Li, doch tatsächlich war sie es: Mondkind auf dem Rücken eines schlanken Riesenvogels. Ein Wagnis, solange Li in der Nähe war, und doch ging sie das Risiko ein. Eine schmale Seidenbahn schoss herab, berührte seine Wange so sanft wie warmer Atem und zog sich wieder zurück. Ein letzter Gruß. Ihr Abschied.
» Mondkind! «, rief er ihr hinterher. » Du hast eine Wahl! Hörst du? Du hast eine Wahl … «
Kranich und Reiterin verschwanden in den Wolken.
Niccolo blieb zurück, heillos verwirrt von der Wahrheit und mehr noch von all dem, was er nicht verstand. Seine Hand suchte das Seidenband an seinem Gürtel. Halb erwartete er, dass es verschwunden wäre, doch es befand sich noch immer an Ort und Stelle. Mit müden Fingern öffnete er den Knoten ohne hinzusehen.
Erst nach einer Weile senkte er den Blick von den glutroten Wolken, wo Mondkind verschwunden war. Schaute nach unten. Auf seine Hand. Auf die Seide.
Der Stoff war weiß und rein gewesen, als sie ihn ihm gegeben hatte. Nun war er grau und voller Ruß. Und da waren Schriftze i chen auf der Seide, eine kurze Reihe chinesischer Symbole:
Hilf mir.
* * *
Eine Weile später landete Lis Kranich. Der Xian stellte mit einem Nicken fest, dass Niccolo erwacht war, und bat ihn, hinter ihm auf dem Vogel Platz zu nehmen.
Kurz bevor sie abhoben, verharrte Li noch einmal, legte die Stirn in Falten und blickte sich auf der Plattform um wie ein witterndes Tier.
» Ist sie hier gewesen? «
Niccolo ahnte, dass es wenig Sinn gehabt hätte, ihn zu bel ü gen. » J a «, sagte er. Keine Erklärung, keine Entschuldigung. Für was auch? Etwa für seine Gefühle?
» Wie lange ist das her? «
» Du kannst sie nicht mehr einholen. « Das war eine bloße Behauptung. Er wusste nichts über die Geschwindigkeit eines Kranichs, nichts über Lis magische Fähigkeiten. Doch der Xian wirkte geschwächt, war sichtlich angeschlagen von … einem Kampf? Niccolo erwachte jäh wie aus Trance. » Was ist passiert? Wo ist Nugua? «
Der Unsterbliche seufzte. » Wir mussten zurück ans andere Ufer … die Mandschu sind unserer Spur gefolgt. Feiqing geht es gut. Und Nugua … « Er hob die Schultern, und vielleicht war das das Schlimmste, was er hätte tun können. Wenn selbst ein Xian nicht weiterwusste, musste es schlecht um sie stehen.
Mit ernster Miene blickte er abermals über die Plattform. Niccolo erwartete schon, dass er Mondkind doch noch verfolgen würde. Dann aber schüttelte der Xian kaum merklich den Kopf.
» Steig auf und halt dich fest! «
Der Kranich brachte sie zurück zum Plateau am Ufer des Lavasees. Schon von weitem sah Niccolo die leblosen Ma n dschusoldaten, überall auf dem dunklen Fels verstreut.
» Großer Leonardo! «, flüsterte er.
Feiqing war in seinem roten Drachenkostüm nicht zu übers e hen; nicht einmal die Schmutzkruste, die es bedeckte, konnte daran etwas ändern. Er saß neben Nugua auf einem Felsen, hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt – und das Erstaunlichste war, dass sie es zuließ. Wisperwind stand daneben und blickte auf, als die Schwingen des Kranichs den heißen Blutgeruch aufwirbelten.
Niccolo glitt rückwärts über das Schwanzgefieder des Vogels und kam hart am Boden auf. Besorgt rannte er zu Nugua und den anderen hinüber.
Sie hob den Kopf und schien erst jetzt wahrzunehmen, wer da vor ihr auftauchte. Die maskenhafte Starre ihrer Züge fiel von ihr ab. Mit einem Jauchzen sprang sie auf und warf sich ihm um den Hals. » Ich bin so froh, dass du da bist! «
Er berührte zaghaft ihren Hinterkopf, und nach kurzem Zögern wurde ein Streicheln daraus. Wisperwind seufzte, während in Feiqings Augen ein Kummer stand, der Niccolo zutiefst e r schrak.
» Wie … wie konnten die uns folgen? «, stammelte er.
Nugua legte den Kopf zurück, sodass sie ihn ansehe n k onnte, aber sie ließ ihn dabei nicht los. » Schamanen. Lotusklaue hatte Schamanen dabei. Sie können dasselbe wie Li, den Weg irgendwie verkürzen und – «
Li trat dazu. » Mondkind ist auf dem Turm gewesen. «
Nugua ließ Niccolo los und wich einen Schritt zurück. Auch Wisperwind sah ihn fragend an.
» Sie … konnte nicht anders, schätze ic h «, sagte er hilflos. Er wich Nuguas Blick aus, in den sich jetzt etwas mischte, mit dem er nicht umgehen konnte. Enttäuschung, vielleicht. Kränkung. Und ein stummer Vorwurf, gegen den er keine Verteidigung hatte.
Wisperwind klopfte ihren Strohhut ab
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