Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
PROLOG
E insam verlor sich der Junge in der ungeheuren Weite der Landschaft.
Das Schwert auf seinem Rücken war einst für die Götter geschmiedet worden, aber ein Krieger war er nicht . Seine Liebe gehörte einem Mädchen mit Zauberkräften, doch auch ein Magier war er nicht. Und obwohl er um das Schicksal des Reiches China kämpfte, war er selbst kein Chinese.
Niccolo wanderte den Felsenkamm eines Berges entlang und stemmte sich gegen Winde, die von den höheren Hängen und Gipfeln herabstrichen. Zu seiner Linken gähnte ein Abgrund, viele hundert Meter tief. Aber Niccolo kannte keine Höhe n angst. Er war auf einer Wolke aufgewachsen, hoch über dem Erdboden.
Seine Augen waren golden wie Bernstein, sein Haar dunke l braun wie das seiner italienischen Vorfahren. Er trug die Kleidung chinesischer Bauern, erdfarbene Hosen und ein knielanges Wams, außerdem ein Bündel, das er sich seitlich an die Hüfte geschnallt hatte, damit es dem Schwert auf seinem Rücken nicht im Weg war.
Vor drei Tagen hatte er seine Gefährten verlassen und sich allein auf den Weg gemacht, hinauf ins Gebirge, auf der Suche nach dem Unsterblichen Tieguai. Bislang hatt e e r nichts gefunden außer schroffem Fels, eisigen Winden und ein paar Bergziegen mit zerzaustem Fell. Wenn er über die Schulter blickte, zurück in die Lande am Fuß der Berge, dann sah er Wälder und zerfurchte Felsnadeln, auf deren Spitzen knorrige Zedern wuchsen. Unsichtbar in der Ferne floss der uralte Lavastrom. Wolken hingen dort über dem Horizont, dunkelgrau, fast schwarz; sie verbargen, was Niccolo, Nugua und die anderen im Lavasee am Ende des Stroms gefunden hatten.
Er wandte sich nach vorn und schaute zu den schneebedeckten Kuppen des Himalayagebirges empor. Er war noch Tage, vielleicht Wochen von den wirklich hohen Gipfeln entfernt. Aber bis dorthin würde er nicht gehen müssen. Seit gestern Abend hatte er sein Ziel vor Augen . Der Unsterbliche Tieguai lebte im Vorgebirge, auf einem Gipfel wie schnurgerade abgeschnitten. Doch obgleich Niccolo den Berg vor sich sah, hatte er nicht das Gefühl, ihm näher zu kommen. Hinter jeder Kuppe lag eine weitere, am Ende jedes Gipfelgrates der nächste Pfad über albtraumtiefen Schluchten und Klüften.
Oft träumte er im Gehen von Mondkind.
Wenn er ihr Seidenband an seinem Gürtel berührte, sah er ihr Gesicht vor sich, bleich und herzförmig, mit dunklen Mandela u gen, umrahmt von schwarzem, glattem Haar. Ihren schlanken Hals, an dem sichtbar die Schlagader pochte, immer so schnell wie Niccolos eigenes Herz.
Mondkind schwebte in diesen Träumen langsam auf ihn zu, gehüllt in einen Ozean aus Seide, der mit wehenden Schleiern und Bändern nach ihm tastete. Bald war ih r G esicht ganz nah an seinem, er konnte ihre Wärme spüren, roch ihre Haut, sah zu, wie sich ihre Lippen bewegten und lautlose Versprechen formten. Sie lächelte sanft, und das Glück, das Niccolo dabei empfand, lullte ihn ein und betäubte seine Verzweiflung.
Doch wenn er in ihre Augen blickte, tief in sie hinein, dann entdeckte er sein Spiegelbild, und es zeigte keine Spur von Freude. Stattdessen sah er sich schreien, eine Grimasse des Entsetzens, denn etwas in ihm erkannte die Wahrheit. Das Wolkenvolk starb, während er Zeit vergeudete. Die Menschen hatten ihm vertraut, und er hatte sie aufgegeben für eine Liebe, die nur im Verderben enden konnte – für die Liebe zu einer Mörderin.
Aber immer, wenn er das erkannte, schloss Mondkind ihre Augen, und Niccolos Abbild verschwand unter ihren langen, dunklen Wimpern.
Das Schwert auf seinem Rücken erschien ihm von Tag zu Tag schwerer. Er wusste, warum Wisperwind ihm die Klinge Silberdorn überlassen hatte. Töte Mondkind!, schien die Waffe zu flüstern. Töte sie, und rette das Wolkenvolk. Rette alle Völker dieser Welt.
Doch er verbannte die Stimme aus seinem Verstand und kämpfte sich wie betäubt weitere Hänge empor, erklomm kargen Fels, suchte sich seinen Weg über Schwindel erregende Tiefen. Weiter ging seine Suche nach Tieguai, dem unsterblichen Einsiedler dieser Berge.
Aber Niccolo fand ihn nicht.
Stattdessen – am dritten Tag seiner Wanderung – fand der Unsterbliche ihn.
DER DRACHENFRIEDHOF
D er Riesenkranich flog höher und überwand einen Wall aus zerklüfteten Felszähnen. Dahinter waberte Nebel, schlängelte sich in Schlieren über die unteren Pässe und kletterte an grauen Granitzähnen empor.
» Wir sind bald da «, rief Li über seine Schulter. Der Unsterbl i
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