Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
Riss im Nebel suchte, nach einer Stelle, die ihnen einen Blick zum Grund der Schlucht gewährte. Doch der Dunst erfüllte die Senke zwischen den Felswänden so dicht wie grauer Schlamm.
» Das ist kein gewöhnlicher Nebel «, sagte Li nach einer Weile. Der Kranich zog gerade seine dritte Runde über der wabernden Oberfläche. » Versuchen wir ’ s! «
Sogleich neigte sich der Kranich nach vorn und schoss in die Tiefe. Nugua krallte die Finger in Lis Gewand. Darunter war sein massiver Oberkörper so hart wie Stein, ein Koloss aus purer Muskelmasse.
Der Kranich bohrte sich mit vorgerecktem Schnabel in den Nebel. Innerhalb weniger Augenblicke umgab sie dichtes Grau. Die Feuchtigkeit drang durch Nuguas Wams und Hose. Sie bekam eine Gänsehaut, auch weil sie jeden Moment mit einem Aufschlag rechnete. Nicht einmal die Augen des Kranichs konnten scharf genug sein, um durch solch einen Dunst zu sehen .
» Li, bist du sicher, dass – «
Sie brachte den Satz nicht zu Ende, denn von einem Atemzug zum nächsten lichtete sich der Nebel. Die letzten Dunstschw a den wischten wie weiße Fledermäuse an ihnen vorüber. Unter ihnen gähnte ein tiefer Abgrund . Düsternis verbarg die Rätsel dieser Kluft, obwohl die Sonne oberhalb des Nebels gerade ihren höchsten Stand erreichte.
Bald schälten sich helle Strukturen aus dem Dämmer, wei ß gelbe Bögen, manche so hoch wie Türme.
Titanische Gerippe.
» Wir sind da «, stellte Li zufrieden fest. » Der Friedhof der Drachen. «
Nugua blickte sich um und schwieg für lange Zeit . Selbst sie, die von Drachen aufgezogen worden war, war bis zuletzt nicht sicher gewesen, ob sie lediglich einer Legende nachjagten. Der Ort, an den sich die Drachen nach Jahrhunderten, manchmal Jahrtausenden zum Sterben zurückzogen, war unter Yaozis Volk ein Geheimnis, über das niemand sprach. Nur ein einziger Drache, so hieß es, lebte dort, wo alle anderen nichts als den Tod fanden: ein uralter Wächter, der den Friedhof seit vielen Zeitaltern vor Eindringlingen bewahrte. Er war Nuguas letzte Hoffnung – denn ganz gleich, was die Drachen dazu gebracht hatte, ohne ein Wort zu verschwinden, der Wächter würde niemals seine Pflicht verletzen und das Heiligtum seines Volkes ungeschützt zurückla s sen.
Lebende Drachen besitzen Ähnlichkeit mit gigantischen Schla n gen, doch aus der Luft erschienen Nugua ihre Ske lette eher wie bizarre Hybriden aus Reptil und Säugetier . Die Bögen, die ihr aus der Höhe als Erstes auffielen, waren Rippen, dutzendfach aneina n dergereiht, sodass sie am Grund der Schlucht gewundene Tunnel bildeten . Manche Drachen hatten sich zum Sterben ineinanderg e rollt, andere lang ausgestreckt. An einigen waren Kletterpflanzen emporgerankt, verschlungene, schwar z blättrige Gewächse, wie sie womöglich nur an einem Ort wie diesem gedeihen konnten.
Selbst aus der Luft war es unmöglich zu sagen, wie viele Drachenleiber dort unten zusammengekommen waren . Über tausende von Jahren hinweg hatten sie sich hierher zum Sterben begeben, abgeschottet von der Welt durch Nebel und Granit. Es mussten Hunderte sein, viele so weit zerfallen, dass die Gestalt ihrer Körper nicht mehr zu erkennen war. Knochen waren ineinandergesunken, hatten sich zwischen anderen verhakt, waren zersplittert oder auf bizarre Weise miteinander ve r schmolzen. Dort, wo sich einzelne Leiber von anderen unterscheiden ließen, lagen viele so eng beieinander, dass sie wahre Labyrinthe formten, zehn, zwanzig Meter hohe Säule n gänge aus bleichem Gebein und Vorhängen aus vermoderter Schuppenhaut.
Längst sank der Kranich nicht mehr tiefer, sondern kreiste wieder, aber das wurde Nugua erst nach einer Weile bewusst. Sie hatte den Atem angehalten, starr vor Erstaunen, zitternd vor Ehrfurcht. Schlagartig überkam sie die Erkenntnis, dass sie hier etwas erblickte, das nicht für menschliche Augen bestimmt war. Gewiss, sie hatte sic h s elbst nie als Mensch gefühlt, vielmehr als eine vom Drachenvolk, obgleich sie die Wochen an der Seite Niccolos, Feiqings und Wisperwinds beinahe eines Besseren belehrt hatten. Nun aber, da sie den Drachenfriedhof unter sich liegen sah, fühlte sie zum ersten Mal, dass sie nie ein echter Drache geworden wäre, ganz gleich, wie viele Jahrzehnte sie noch in Yaozis Clan verbracht hätte. Obwohl das dort unten nichts als tote Leiber waren, nur blanke Knochen ohne Leben, ohne Verstand, ohne das, was wahre Drachen ausmachte, flößten sie ihr doch ein so überwältigendes Gefühl von
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