Das Kleine Buch Der Lebenslust
Vorwort
Wir hatten Urlaub. Für ihn war es ein normaler Arbeitstag. Wir wärmten uns auf einem kleinen Platz in Palermo in der Maisonne. Er war ein Textilienverkäufer, der durch die unsanierten Hinterhöfe der Vucceria zog, seine Ware auf einem Handkarren vor sich her übers Pflaster schob und sie den Hausfrauen anpries, von denen zwischendurch eine oben kurz aus einem Fenster schaute und ihm etwas zurief. Er sang halblaut meist, fast nur für sich, dann wieder aus voller Brust, und zwischendurch rief er die Namen seiner Kundinnen und seine nicht immer ganz sauberen Scherze. Nur eine kaufte eine Kleinigkeit so lange wir ihm auf dem Platz zusahen. Aber er nahm dem Leben nichts übel an diesem schönen Tag. Singend zog er weiter. Es war wie ein kitschiges Opernszenario. Aber vor allem ein Bild der Lebenslust. Nicht zu beneiden, der Mann, um seinen Job. Und irgendwie doch ...
Warum sang er? Weil er musste. Warum singt ein Vogel? Weil er muss. Er drückt in seinem Lied die Lust des Lebens zu sich selber aus.
In dieser Hinsicht sind Kinder wie Vögel. Kinder, kleinere und größere, können so sein, nach Herzenslustselbstversunken, hingegeben an den Augenblick. Wie die kleine Antonia, noch keine zwei Jahre alt, die kürzlich ins Büro kam und irgendetwas entdeckte, was sie entzückte: ein Juchzen, ein Strahlen. Ihr ganzer Körper, sie selbst, war dieser Jauchzer in diesem Augenblick. In ihr hatte nichts anderes Platz als diese Freude, und die Aktenordner fingen für einen Moment an zu tanzen. Kinder können so sein: Sie gehen nicht, sie hüpfen, rennen, schreien sich etwas zu oder flüstern sich ins Ohr. So sind sie: Spiel ist Ernst, ist intensives Leben. Ganz bei sich, selbstvergessen und gleichzeitig voller Bewegung.
Bei den Indianern wird das erste helle Lachen eines Kindes gefeiert, als Festtag der Erwachsenen. „Das erste Lachen eines Kindes“, sagt der Schweizer Clown Dimitri, ist schon „erster Ausdruck von Liebe und von Wohlempfinden“. Vielleicht lieben Kinder und Erwachsene die Clowns aus diesem Grund ganz besonders, weil sie das Lachen wieder aus uns heraus holen. Lachen, sagt man, „perlt“. Auch Lebenslust schäumt über.
„Lebenslust“, das heißt: Es ist eine Lust, zu leben. Alle Last fällt von einem ab. Alles wird leicht durch diese positive Energie, die Leib und Seele in Schwung bringt. Man denkt an Liebe und Ekstase,Lachen, Genuss. An Tanz und Fest. Musik liegt in der Luft.
„Schön zu leben, sage ich, obwohl vieles dagegen spricht“ (Detlev Block). Nicht immer ist das Leben lustig. Aber letztlich überwiegt doch die positive Sicht: Lebenslust ist eine luftige Energie: sich über den Alltag erheben, wie ein Drachen im Aufwind. Über den Niederungen wie ein Bergsteiger, dem die Sorgen im Abstand auf einmal klein werden und unerheblich, ja lächerlich: Das Leben insgesamt – eine Leichtigkeit.
Wenn Kinder in aller Regel so sein können: Wieso nicht auch wir Erwachsene? Wer blockiert, was verschüttet diese ursprüngliche Energie? Wer hat uns diese ursprüngliche Freude am Dasein ausgetrieben? Ist die Erziehung schuld? Oder die Keule der Moral? Was auch immer. Wichtiger ist: Wie können wir die verlorene Lebenslust wieder erlangen?
„Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens für jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereitliegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Namen, beim richtigen Wort, dann kommt sie.“ Franz Kafka hat das in seinen Tagebüchern notiert.
Lebenslust, so sagt auch Anselm Grün, ist etwas, was wir als Erwachsene wieder lernen und einüben können: ganz im Augenblick zu sein, mit allen Sinnen zu leben, den Moment genießen. Um diese Kunst zu lernen, muss man nichts haben, nichts wollen, sich auf keine Ziele fixieren. „Nur wer sich selbst vergisst, vermag das reine Dasein zu schmecken und die Lust daran zu empfinden.“
Gier macht lüstern. Freude macht lustig. Warum finden wir einen Clown lustig? Es ist nicht die Schadenfreude über seine Tollpatschigkeit. Es ist seine Lust, zweckfrei etwas auszudrücken, was das Leben selber ist. Dass er Widersprüche sieht und sein lässt, dass er sie darstellt, indem er mit ihnen spielt – und sie auflöst in erlösendes, zustimmendes Gelächter.
Ein guter Clown, meint Dimitri, ist wie ein Kind, das spielt – einfach weil es muss.
Werden wie die Kinder – wenn das gelänge – das Leben wäre
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