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Das zweite Vaterland

Das zweite Vaterland

Titel: Das zweite Vaterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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zurückgefahren. Dann brauchte in der Lebensführung der beiden Familien zunächst nichts geändert zu werden, außer daß man die Meeresfläche vor Felsenheim immer scharf im Auge behielt.
    So wurden also nach Verlauf der wenigen aufregenden Tage die gewöhnlichen Arbeiten, vorzüglich aber die an der Kapelle, wieder aufgenommen.
    Alle gingen hier kräftig ans Werk, da der Bau bei der Ankunft der »Licorne« fertig sein sollte Die mit Seitenfenstern versehenen vier Mauern erhoben sich bereits bis zur Dachhöhe und im Hintergrunde erhielt die Chorhaube ihre Beleuchtung durch eine kreisrunde Oeffnung. Wolston begann das Dachgerüst aufzustellen, das, dicht genug, jeden Platzregen auszuhalten, mit Bambus eingedeckt wurde. Die Ausschmückung des Innern der Kapelle hatten Frau Zermatt, Frau Wolston und Annah übernommen, und an deren gutem Geschmack konnte man nicht zweifeln.
    Diese Arbeiten zogen sich bis zum 15. October, bis zu dem Tage hin, wo die »Licorne« hatte wieder eintreffen sollen Verspätete sie sich um acht oder vierzehn Tage, so war das im Hinblick auf die weite Fahrstrecke noch kein Grund zur Beunruhigung, höchstens wurde damit die Geduld der beiden Familien auf die Probe gestellt. Freilich konnte diese in Felsenheim bald niemand mehr so recht bewahren.
    Am 19. hatte noch kein Kanonenschuß die Annäherung der Corvette gemeldet. Jack bestieg deshalb seinen Onagre und ritt nach dem Prospect-Hill und nach dem Cap der Getäuschten Hoffnung hinaus. Vergebens! Das Meer war öde und leer bis zur äußersten Linie des Horizontes.
    Auch am 27. wiederholte er diesen Ausflug, doch ebenso erfolglos wie vorher. Jetzt trat nun erklärlicherweise die Unruhe an die Stelle der Ungeduld.
    »O, ich bitte Euch, mahnte der ältere Zermatt, der seine kleine Welt zu beruhigen sachte, wiederholt, vierzehn Tage, selbst drei Wochen bilden doch hier keine so ernstliche Verspätung…
    – Zumal da wir gar nicht wissen, setzte Wolston hinzu, ob die »Licorne« England wirklich zur verabredeten Zeit hat verlassen können.
    – Die Admiralität, bemerkte Frau Zermatt sehr arglos, muß sich aber doch beeilt haben, von der neuen Colonie Besitz zu ergreifen.«
    Wolston lächelte bei dem Gedanken, daß die britische Admiralität es je mit etwas eilig gehabt haben solle.
    Immerhin behielt man außer der Ueberwachung des Meeres vor dem Cap der Getäuschten Hoffnung auch das Wasser vor dem Cap im Osten stets scharf im Auge. Mehrmals an jedem Tage richteten sich die Fernrohre nach der Elephantenbucht hinaus, wie man den Theil der Küste, wo das Lager der Wilden gewesen war, getauft hatte.
    Bisher war keine einzige Pirogue bemerkt worden. Waren die Wilden nicht wieder abgesegelt, so schien es mindestens, als ob sie ihren Lagerplatz nicht zu verlassen gedächten. Sollten sie aber dennoch an der Spitze des Caps im Osten auftauchen und etwa nach der Rettungsbucht zu steuern, so konnte man sie doch mittels der Batterie der Haifischinsel und der Geschütze auf der Anhöhe bei Felsenheim jedenfalls zurückweisen.
    Besser war es allemal, sich gegen sie nach der Seite des Meeres, als nach der des Landes hin zu vertheidigen, denn die größte Gefahr drohte dann, wenn sie nach der Erstürmung der Schlucht der Cluse zur Wohnstätte der Ansiedler vordrangen.
    Fielen so gegen hundert Wilde hier ein, so war ein Angriff auf Felsenheim voraussichtlich kaum abzuwehren. Vielleicht müßten die Ansiedler dann nach der Haifischinsel flüchten, wo sie sich bis zum Eintreffen der englischen Corvette eher zu halten vermochten.
    Die »Licorne« erschien aber nicht, das Ende des Octobers, des zwölften Monats seit ihrer Abfahrt, kam schon heran. Jeden Morgen hofften der ältere Zermatt, Ernst und Jack durch den Donner von Geschützen geweckt zu werden. Das Wetter war prächtig. Der leichte Dunst über dem Horizonte verschwand gleich beim Aufgang der Sonne.
    So weit, wie das Auge nach dem offenen Meere hinausreichte, suchten alle ängstlich nach der »Licorne«.
    Noch am 7. November aber mußten sie sich, bei einem nach dem Prospect-Hill unternommenen Ausfluge, leider überzeugen, daß noch immer kein Segel zwischen den beiden Caps blinkte. Vom Cap der Getäuschten Hoffnung her erwartete man die Erfüllung der sehnlichsten Wünsche… vom Cap im Osten her konnte das schlimmste Unheil kommen.
    In tiefem Schweigen standen alle auf dem Gipfel des kleinen Hügels – gebannt unter die Herrschaft eines Gefühls, in dem sich Furcht und Hoffnung zu gleichen Theilen

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