Daughter of Smoke and Bone
wurde nicht mit Gold oder Rätsellösen, nicht mit Freundlichkeit oder sonst einem Quatsch, der in Märchen verzapft wurde, und nein, auch nicht mit Seelen. Sondern mit etwas noch viel Merkwürdigerem.
Mit Zähnen.
Karou überquerte die Karlsbrücke und nahm die Straßenbahn nach Norden ins Jüdische Viertel; ursprünglich ein mittelalterliches Ghetto, zeichnete es sich inzwischen durch eine hohe Dichte von Jugendstilgebäuden aus, hübsch und verschnörkelt wie Torten. Karous Ziel war der Dienstboteneingang eines dieser Gebäude. Die schlichte Metalltür sah nicht sonderlich bedeutungsvoll aus, und für sich genommen war sie das auch nicht. Wenn man sie von außen öffnete, lag dahinter nur eine stockfleckige Wäschekammer. Aber Karou öffnete sie nicht. Sie klopfte und wartete, denn wenn die Tür von innen geöffnet wurde, führte sie an einen ganz anderen Ort.
Die Tür schwang auf und gab den Blick frei auf Issa, genau wie Karou sie gemalt hatte – eine Schlangengöttin in einem antiken Tempel. Ihr gewundener Unterleib verlor sich im Schatten eines kleinen Flurs. »Sei gesegnet, meine Liebe.«
»Sei gesegnet«, erwiderte Karou herzlich und küsste sie auf die Wange. »Ist Kishmish schon zurück?«
»Das ist er«, sagte Issa. »Saß auf meiner Schulter, kalt wie ein Eiszapfen. Aber komm erst mal rein. In deiner Stadt ist es ja furchtbar kalt.« Sie war die Wächterin der Schwelle und winkte Karou herein, die Tür schnell hinter ihr schließend, so dass sie zu zweit in einem Raum standen, der nicht größer war als ein Wandschrank. Die äußere Tür des Flurs musste richtig geschlossen werden, bevor sich die innere öffnen ließ, wie die Sicherheitstüren in einem Vogelhaus, die dafür sorgen, dass die Vögel nicht davonfliegen können. Nur dass mit diesen Türen keine Vögel aufgehalten wurden.
»Wie war dein Tag, Süße?« Ein halbes Duzend Schlangen wand sich um Issas Körper, manche waren um ihre Arme geschlungen, manche glitten durch ihre Haare, und eine umschloss ihre schmale Taille wie die Kette einer Bauchtänzerin. Jeder, der Einlass erbat, musste sich eine dieser Schlangen um den Hals legen lassen, bevor die inneren Türen sich öffneten – jeder bis auf Karou. Sie war der einzige Mensch, der den Laden ohne ein solches Halsband betreten durfte, denn man vertraute ihr. Schließlich war sie an diesem Ort aufgewachsen.
»Was für ein Tag«, seufzte Karou. »Du wirst nicht glauben, was Kaz sich heute geleistet hat. Er ist als Modell in meinem Zeichenkurs aufgetaucht.«
Issa hatte Kaz natürlich noch nie getroffen, aber sie kannte ihn genauso, wie Kaz seinerseits auch Issa kannte: aus Karous Skizzenbüchern. Der Unterschied war, dass Kaz dachte, Issa und ihre perfekten Brüste wären ein erotisches Produkt aus Karous Phantasie, während Issa genau wusste, dass Kaz real war.
Sie, Twiga und Yasri waren genauso süchtig nach den Skizzenbüchern wie Karous menschliche Freunde, aber aus dem umgekehrten Grund. Sie sahen gerne die normalen Dinge: Touristen, die sich unter Regenschirmen zusammendrängten, Hühner, die auf Balkonen hausten, spielende Kinder im Park. Und Issa war besonders fasziniert von den Aktzeichnungen. Für sie war der menschliche Körper – so schlicht und ohne irgendwelche Teile einer anderen Spezies – eine verpasste Gelegenheit. Ständig musterte sie Karou eingehend und verkündete Dinge wie: »Ich glaube, ein Geweih würde dir gut stehen, Süße«, oder: »Du würdest dich gut als Schlange machen.« Genau wie ein Mensch eine neue Frisur oder Lippenstiftfarbe vorschlagen würde.
Jetzt blitzten Issas Augen zornig auf. »Er war in deiner Schule? Der unerhörte Nagerbraten! Hast du ihn gezeichnet? Zeig her.« Egal, wie aufgebracht sie war, sie ließ sich keine Gelegenheit entgehen, Kaz nackt zu sehen.
Karou holte ihren Block hervor und schlug ihn auf.
»Du hast den besten Teil weggekritzelt«, beschwerte sich Issa.
»Glaub mir, so toll war der gar nicht.«
Issa kicherte hinter vorgehaltener Hand, während die Ladentür sich knarzend öffnete und ihnen Zutritt gewährte. Wie immer, wenn sie über die Schwelle trat, wurde Karou von einem leichten Schwindel erfasst.
Sie war nicht mehr in Prag.
Obwohl sie in Brimstones Laden gelebt hatte, verstand sie immer noch nicht, wo er eigentlich lag, sie wusste nur, dass man ihn durch Türen auf der ganzen Welt betreten konnte und genau hier landete. Als Kind hatte sie Brimstone oft gefragt, wo genau »hier« war, aber er hatte immer nur
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