Himmel über London
1
Leonard
W i r kamen um 16.50 Uhr mit dem Heathrow Express in Paddington an.
Ich nahm den Evening Standard von einem Zeitungsjungen entgegen, und während wir in der Taxischlange warteten, schaffte ich es noch, etwas über einen Messermord draußen in Wimbledon Common zu lesen – ausgeübt von einem, den der Journalist »The Watch Killer« nannte, da er offenbar die Angewohnheit hatte, eine kaputte Armbanduhr bei seinen Opfern zu hinterlassen. Ich erwähnte Maud gegenüber nichts davon; wir hatten uns während der Reise überhaupt wenig unterhalten, und sie wird nicht gern an den Zustand der Welt erinnert.
Ich mag mich an meinen Zustand auch nicht erinnern, wenn man es genau nimmt, obwohl ich mir schließlich genau das vorgenommen habe.
Ernsthaft. In erster Linie, was die Gedanken angeht; nicht in diesen üblichen, irritierenden Zweifel zu verfallen, sondern in den nächsten zwölf Tagen so klar im Kopf wie möglich zu sein. Es geht doch vor allem darum, dass alles klappt, zu einer Lösung kommt, aber in schwachen Momenten habe ich das Gefühl, dass mein ganzes Leben nur eine Palette von Kompromissen und Entscheidungen war, die mir durch die Finger rannen. Was besonders deutlich kurz vor Toresschluss wird, wo man gezwungenermaßen eher in den Rückspiegel schaut, weil es nicht mehr viele andere Richtungen gibt, in die man blicken kann, und das soll mir nicht mehr passieren. Weg mit dieser verdammten Ambivalenz, denke ich; das Finale soll in einer anderen Tonart erklingen als die Symphonie selbst. Ein wenig Händel, warum nicht?
Ich gratulierte mir selbst zu diesen zusammenfassenden Gedanken, die sich ausgerechnet in so musikalischen Termini zeigten, und spürte diesen inneren, klaren Schimmer, der sich ab und z u in meinem Schädel zeigt, förmlich. Nur flüchtig und wahrscheinlich trügerisch, aber dennoch als überraschendes Aufblitzen von etwas Hellem und sicher Gutartigem. Ich weiß nicht, um was es sich dabei handelt und ob es überhaupt eine Rolle spielt. Ich warf die Zeitung in einen Abfalleimer und zündete mir eine Zigarette an, es standen mindestens noch zwanzig Leute vor uns in der Schlange, ich würde sie in aller Ruhe rauchen können.
»Du solltest doch nicht …«
Sie versuchte vergebens, sich zurückzuhalten. Es ist nicht diese Art von Krebs, die mich umbringen wird, auch wenn jede einzelne Zigarette wahrscheinlich dazu beiträgt, die Sache zu beschleunigen. Werner hatte das bei unserer letzten Begegnung unterstrichen, aber so etwas zu betonen, dafür werden Ärzte bezahlt, das wissen wir beide. Ich rauche seit mehr als fünfzig Jahren, warum sollte ich jetzt damit aufhören, wo die Zeit knapp wird?
Über das natürliche Enddatum brauchen wir nicht zu spekulieren, aber es wird sich unter keinen Umständen um mehr als ein halbes Jahr handeln. Nun ist es eine Frage von Tagen, ich habe es selbst in der Hand, und ich bin überzeugt davon, dass ich es auf jeden Fall begrenzen werde. Knapp zwei Wochen; wir schreiben heute den 13. September, der 25. ist das entscheidende Datum, und ich erwarte, dass ich an diesem Tag mit einem deutlichen Gefühl von Trost und Zufriedenheit erwache. Ich könnte auch schreiben Triumph – Händel, wie gesagt –, aber Demut ist eine Tugend.
Das Taxi brachte uns durch den dichten Verkehr und einen gelblichen Nieselregen die Bishop’s Bridge Road und die Westbourne Grove entlang zur Chepstow Road. The Commander liegt auf der Grenze zwischen Bayswater und Notting Hill, einen Moment lang wurde ich von einem Gefühl der Erinnerung überwältigt. Das ganze Gebiet nach Portobello hin hatte sich in den letzten Jahren verändert, besonders Westbourne Grove, wo sich neugegründete Restaurants, Möbelgeschäfte, Galerien und italienische Cafés mit den alten nützlichen Geschäften drängelten: Waschsalons, Eisenwarenhandlungen, Maler und Tapezierer, Friseure und Obstläden. Die viktorianischen Überbleibsel nicht zu vergessen, die immer noch wie leicht betagte Primadonnen ihr Dasein fristen: Kildare Terrace, Kensington Gardens Square, Pembridge Villas. Es ist insgesamt eine schöne Mischung, und ich denke, ich hätte mein ganzes Erwachsenenleben hier verbringen können. Warum bin ich jemals von hier fortgezogen? Alles wäre anders gekommen.
The Commander hat zehn oder zwölf Jahre auf dem Buckel. Ich habe hier früher schon einmal übernachtet, ein paar Tage im Zusammenhang mit Christophers Beerdigung, und wir bekommen dieselbe kleine Suite, die ich damals hatte. Ich hatte
Weitere Kostenlose Bücher