Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen
Vorwort
Sie holten sie aus ihren Wohnungen, aus den Fabriken, wo sie zu Zwangsarbeit verurteilt waren, nahmen sie, wo und wie sie sie fanden im Arbeitskittel, ohne Mantel, im Schlafanzug nach einer Nachtschicht. Kleinkinder torkelten an der Hand ihrer Mütter einher, junge Burschen schritten aus, als wollten sie es schnell hinter sich bringen, Männer gingen geduckt unter der Last ihres letzten Besitzes. Vom Fenster aus sah ich sie, sehe ich sie noch heute, in ihrem Erschrecken wie erstarrt, von Polizeibeamten, SS-Leuten, Zivilbeamten in die Wagen gestoßen. Die Aktion dauerte einige Tage. Dann waren sie alle fort – meine Familie, meine Freundinnen, Otto Weidts Blinde. Wir hatten keinen Schrei gehört, sahen kein Aufbegehren. Da liefen nur Gestalten, deren Ziel bestimmt zu sein schien. Des Nachts sah ich sie wieder vor mir und dachte an sie. Wo nur waren sie jetzt? Was tat man ihnen an? Ich begann mich schuldig zu fühlen. Mit welchem Recht drückte ich mich vor einem Schicksal, das auch das meine hätte sein müssen?
Nichtjüdische Freunde boten meiner Mutter und mir an, uns zu verstecken. Sie riskierten ihren Kopf für uns. Zwei Jahre und vier Monate dauerte dieses Leben von einem Versteck zum anderen. Weder unsere Freunde noch wir hatten vorausgesehen, wie schwer es sein würde. Doch sie brachten uns durch.
Mein Vater, der kurz vor Kriegsbeginn nach England fliehen konnte, beantragte unsere Einreise. Ein Jahr lang mußten wir in Berlin auf das Visum warten. Emigranten begleiteten meinen Vater zu unserer Ankunft in London. Ich sah es sofort: Für sie waren wir Abgesandte ihrer ermordeten Angehörigen. Sie kämpften mit Tränen und wieder empfand ich Schuld wie damals, als ich das Schicksal der Deportierten nicht teilte.
Die Schuld wich schließlich der Sprachlosigkeit, als die Menschen in Nachkriegsdeutschland zu mir sagten „Vergessen Sie doch“, wenn sie mich nicht anders zum Schweigen bringen konnten. „Sie müssen doch auch vergeben können“, meinten sie, „es ist doch schon so lange her.“ Die meisten, denen ich begegnete, hatten sie einfach aus ihrem Gedächtnis gelöscht, die Verbrechen, für die der deutsche Staat eine eigene Mordmaschinerie hatte errichten lassen.
Da wußte ich plötzlich, was meine Pflicht war: Ich mußte es niederschreiben: die Wahrheit der schrecklichen Geschehnisse, präzise und emotionslos. Es ging mir nicht darum, daß die Schuldigen einen Weg der Sühne dem jüdischen Volk gegenüber suchten. Ich war wie besessen von der Idee, daß Vergleichbares nie wieder geschehen dürfe, daß Menschen anderen Menschen das Recht auf Leben streitig machen können, ganz gleich, welcher Hautfarbe, welcher Religion, welcher politischen Richtung, nicht hier und nicht anderswo. Und um dieses Zieles wegen gilt es die Wahrheit zu wissen, die ganze Wahrheit. Denn solange die Frage Rätsel aufgibt, wie konnte es geschehen, was waren die Ursachen politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher Art, ist die Gefahr nicht gebannt, daß ähnliche Verbrechen die Menschheit erneut heimsuchen.
Die vorliegende Sammlung enthält Auszüge aus einigen meiner Bücher, etlichen Buchbeiträgen, Reden und Zeitungsartikeln. Sie entstanden aus meinen Erfahrungen als Verfolgte in der Zeit eines verbrecherischen Regimes in Deutschland und als Überlebende in der Nachkriegszeit. In diesem Buch ist das Erlebte und Beobachtete nach thematischen Schwerpunkten geordnet: Den Anfang macht eine Kurzbiographie „Ein Todesurteil und vier Leben“ zu meiner Person, Beiträge zu meiner Kindheit und Jugend im Zeichen des „gelben Sterns“ schließen sich an. Es folgen verschiedene Aufzeichnungen zur Stimmungslage im Nachkriegsdeutschland bis in die siebziger Jahre hinein. Weitere Themenschwerpunkte sind die Komplexität der Aufarbeitung deutscher Geschichte und das schwierige Verhältnis zwischen Deutschland und Israel sowie meine Rückkehr nach Deutschland. Einen zusammenfassenden Rückblick, der zugleich als Ausblick gelesen werden kann, bieten schließlich verschiedene Reden zu unterschiedlichen Anlässen. Das Niederschreiben meiner Erlebnisse ist mir zur Verpflichtung geworden – mir als einer, die dank mutiger Berliner das grausame Schicksal von Millionen anderen nicht teilen mußte.
Inge Deutschkron
Kurzbiographie – Ein Todesurteil und vier Leben
Sie sagte es schnell und sehr bestimmt: „Frau Deutschkron. Sie und Inge dürfen sich nicht deportieren lassen!“ Dabei hielt Emma Gumz die Hände meiner Mutter
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