Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
David und Goliath

David und Goliath

Titel: David und Goliath Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
Vom Netzwerk:
nicht.
2
    Warum kamen die Nationalsozialisten nicht einfach nach Le Chambon, um ein Exempel zu statuieren? Bei Kriegsausbruch hatte das Collège Cévenol 18   Schüler, im Jahr 1944 waren es 350. Man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, woher die zusätzlichen 332   Kinder kamen. Niemand machte einen Hehl daraus. Wir fühlen uns verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, dass sich Juden unter uns befinden. Die Mitarbeiterin eines Hilfswerks beschrieb, wie sie mehrere Male im Monat mit dem Zug aus Lyon kam und jedes Mal ein gutes Dutzend jüdischer Kinder mitbrachte. Sie ließ sie ihm Hotel May in der Nähe des Bahnhofs und ging durch das Dorf, bis sie alle untergebracht hatte. Das verstieß ganz offensichtlich gegen die Gesetze von Vichy-Frankreich. Bei anderen Gelegenheiten hatten die Deutschen keinen Zweifel gelassen, dass sie in der »Judenfrage« nicht zu Kompromissen bereit waren. Irgendwann kam auch die Polizei des Vichy-Regimes nach Le Chambon, und durchsuchte drei Wochen lang den Ort und die Umgebung nach jüdischen Flüchtlingen. Sie nahmen zwei Personen fest und setzten eine davon wenig später wieder auf freien Fuß. Warum trieben sie nicht einfach sämtliche Einwohner zusammen und deportierten sie nach Auschwitz?
    In seinem Buch Dass nicht unschuldig Blut vergossen werde , in dem er die Ereignisse in Le Chambon beschreibt, mutmaßt Philip Hallie, der Ort habe gegen Kriegsende unter dem Schutz des Gestapo-Majors Julius Schmahling gestanden. Außerdem habe der Ort unter den Angehörigen der Vichy-Polizei viele Freunde gehabt. Manchmal erhielt André Trocmé mitten in der Nacht einen Anruf, am folgenden Tag stehe eine Razzia bevor. Wenn eine Polizeipatrouille nach einem Hinweis auf versteckte Flüchtlinge ins Dorf kam, genehmigte sie sich zunächst im Café einen ausgiebigen Imbiss, damit auch der Letzte im Ort von ihrer Anwesenheit erfuhr. Die Deutschen hatten genug zu tun, vor allem als ab Anfang 1943 die Ostfront einbrach. Sie hatten vermutlich keine Lust, sich mit ein paar widerspenstigen Bergdörflern herumzuschlagen.
    Aber die eigentliche Antwort ist das, was ich in diesem Buch zeigen wollte: Eine Ortschaft, eine Bewegung oder ein Volk auszulöschen ist gar nicht so einfach, wie es scheint. Die Mächtigen sind nicht so mächtig, wie sie wirken, und die Schwachen nicht so schwach. Die Hugenotten von Le Chambon waren Nachfahren der ersten französischen Protestanten, und sie hatten sich schon früher als zäh erwiesen. Ein König nach dem anderen versuchte, sie zu einer Rückkehr in die katholischeKirche zu zwingen. Die Hugenotten wurden verfolgt, gefangen genommen und ermordet. Tausende Männer wurden hingerichtet, Frauen wurden lebenslang eingesperrt. Kinder wurden zwangsweise in katholische Familien gesteckt, um ihnen ihren Glauben zu nehmen. Die Verfolgungen dauerten über ein Jahrhundert lang. Ende des 17.   Jahrhunderts flohen 200   000   Hugenotten in andere europäische Staaten und nach Nordamerika. Die wenigen, die zurückblieben, waren gezwungen, in den Untergrund zu gehen. Sie hielten ihre Gottesdienste im Geheimen und in abgelegenen Wäldern ab. Sie zogen sich in einsame Bergdörfer auf dem Vivarais-Plateau zurück. Sie gründeten ein Seminar in der Schweiz und schmuggelten Pastoren über die Grenze. Sie lernten die Kunst der Ausflucht und Verstellung. Sie blieben und lernten, wie die Londoner während des Luftkriegs, dass sie im Grunde gar keine Angst hatten. Sie hatten nur Angst vor der Angst.
    Im übrigen Frankreich konnten die Menschen an nichts anderes denken. Doch die Einwohner von Le Chambon schienen unbeeindruckt. Als die ersten jüdischen Flüchtlinge kamen, besorgten sie ihnen falsche Papiere, was nicht weiter schwierig war in einer Gemeinschaft, die seit Jahrhunderten ihre wahren Überzeugungen vor dem Staat verbirgt. Sie versteckten die Juden an Orten, an denen sie seit Generationen Flüchtlinge versteckt hatten, und schmuggelten sie auf Schleichwegen in die Schweiz, die sie seit drei Jahrhunderten benutzt hatten. Bis Kriegsende waren mehrere Tausend Juden über Le Chambon geflohen. 163 Magda Trocmé berichtete weiter: »Manchmal werde ich gefragt, wie ich diese Entscheidung getroffen habe. Aber es gab gar nichts zu entscheiden. Die Frage war doch, sind wir alle Brüder oder nicht. Ist es ein Unrecht, die Juden den Behörden auszuliefern, oder nicht? Dann lasst uns helfen!« 164
    Mit ihrem Versuch, die Hugenotten auszurotten, hatten die Franzosen ein Widerstandsnest geschaffen,

Weitere Kostenlose Bücher