Klammroth: Roman (German Edition)
Der Tunnel existierte seit einer Ewigkeit, hoch und schwarz und hungrig.
Er hatte schon Opfer gefordert, als noch keine Menschen in den Wäldern am Fluss gelebt und Roms Legionäre auf dem Durchmarsch den ersten Stollen in den Fels getrieben hatten. Männer waren bei den Versuchen ums Leben gekommen, diesem Berg zu Leibe zu rücken und eine Straße entlang des Nordufers zu bauen. In den zwei Jahrtausenden, die seither vergangen waren, hatte das Sterben kein Ende genommen.
Der Tunnel war älter als die Weinberge, die weiter östlich die Hänge bedeckten, älter als die erste Brücke über den Fluss. Männer und Frauen waren zu Tausenden durch seine Schatten getappt wie verängstigte Kinder. Die meisten hatte er ziehen lassen. Denn während all der Zeitalter war er niemals gierig geworden, hatte sich in Geduld und Bescheidenheit geübt, hatte gewartet und vielleicht sogar geschlummert – selbst dann noch, als Arbeiter mit Maschinen kamen, seine Decke und Wände schleiften, sie stützten und festigten. Er hatte es mit Wohlwollen geschehen lassen, denn es war zu seinem Besten. Auch damals hatte es Unfälle gegeben, vereinzelte Opfer dann und wann, aber nicht genug, als dass man ihn dafür verriegelt und versiegelt hätte.
Erst musste etwas Besonderes geschehen, ein Unglück, so furchtbar, dass die Menschen den Beschluss fassten, die Zufahrten zum Tunnel zu zerstören, seine schwarzen Augen zu blenden und die Finsternis im Inneren sich selbst zu überlassen.
***
Ein Morgen im Frühjahr, und das Leben erwachte zum Sterben.
Tau versilberte die Blätter des Waldes oberhalb und unterhalb der Straße, die sich eng an den Berghang schmiegte. Nebel stieg vom Flusstal auf und blieb zerrissen an den Wipfeln der Tannen und Fichten hängen. Ein Raubvogel kreiste über dem Asphalt und spähte ins Unterholz, das von beiden Seiten gegen die Leitplanken drängte.
Wäre da so kurz vor der Katastrophe ein Mensch gewesen, hätte ihn die Idylle womöglich betört: das Vogelgezwitscher in den Zweigen und der erste Sonnenschein, der die Kletterranken über dem westlichen Tunneleingang beschien. Noch hatte das Licht nicht die Öffnung erreicht, erst am späten Vormittag würden die Strahlen für kurze Zeit ins Innere fallen. Jetzt gähnte die Tunnelöffnung schwarz und kühl, während der Asphalt dalag wie eine ausgerollte Reptilienzunge, die darauf wartete, dass sich jemand ahnungslos auf ihr niederließ.
In wenigen Minuten würde das Mädchen ins Freie treten.
Der Tunnel war kaum mehr als zweihundert Meter lang, aber wer vor einem der beiden Zugänge stand, konnte das nicht ahnen. Die Straße machte im Inneren einen leichten Bogen, so, als hätten jene, die ihn geplant hatten, vor etwas ausweichen wollen, das im Fels verpuppt war wie ein rätselhaftes Fossil. Vielleicht wäre es klüger gewesen, einen Stollen geradewegs durch das Herz des Berges zu treiben, eine Klinge durch den Leib des Feindes.
Es gab kein Tageslicht am Ende des Tunnels, nur Dunkelheit. Wer in den Berg blickte, sah nichts als Schwärze – oder die Scheinwerfer eines heranrasenden Fahrzeugs, meist viel schneller als erlaubt, weil niemand mehr Zeit als nötig in den Innereien des Berges verbringen wollte.
Der Habicht über der Straße zog eine letzte Runde, dann jagte er aufwärts, wurde vom Sonnenlicht erfasst und schien aufzuglühen, flatterte einen Augenblick lang auf der Stelle und verschwand in den Wäldern. Etwas hatte ihn aufgeschreckt, ein Windstoß in Richtung der Öffnung, ein Atemzug des Gesteins, in dessen Sog er nicht geraten wollte. Dann war Schweigen, selbst die Vögel in den Wipfeln sangen nicht mehr.
Ein Dröhnen ertönte, weit entfernt, ein Echo aus den Tiefen des Berges. Erst ein fernes Rumoren, dann ein Grollen. Die Ranken, die von der Felswand über den Rand der Öffnung baumelten, zuckten zart wie Nervenenden. Eine Vibration ergriff das Gestein, und Staub tanzte auf dem Asphalt. Vogelschwärme stiegen aus den Bäumen empor und schossen in den Himmel wie Fische auf der Flucht vor dem Hai.
Die Laute kamen näher, Motorenlärm, noch immer hallend und verzerrt. Abrupt ertönte eine Hupe, gefolgt von hohem Kreischen, von Quietschen und schließlich verstörender Stille, als wäre dort tief im Berg ein Vakuum entstanden, das jeden Ton und jedes Licht und alles Leben schluckte. Dann zerbarst etwas, Metall zerfetzte, und Glas zerbrach, durchmischt mit dem schlimmsten Laut von allen.
Kindergeschrei.
Endlose Schmerzensschreie, als probte
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