Deer Lake 01 - Sünden der Nacht
westlich der Stadtmitte wichen die alten Viertel charakterlosen Bauten aus den Sechzigern, den Maisonettehäusern der Siebziger und dem letzten Schrei für Besserverdienende – teure Häuser im Mischmaschstil, die auf einem oder mehr Morgen Land standen. Pseudo-Tudor und Pseudo-Georgian, verschnörkelte Holzhäuser mit Anbauten und Yuppie-rustikale Häuser, wie das der Kirkwoods mit Zedernholz verkleidet, und Gärten voller Birken und kunstvoll arrangierter Felsblöcke. Die Baufirmen hatten sich große Mühe gegeben, damit die Häuser so aussahen, als würden sie seit Jahrzehnten existieren. Geschickt ausgesuchte Bauplätze, alter Baumbestand und gewundene Straßen vermittelten die Illusion von Abgeschiedenheit.
Das Haus der Kirkwoods stand am Seeufer, der jetzt nur eine schneebestäubte Eisfläche mit ein paar Hütten zum Eisfischen war. Im grauen Morgenlicht sah alles ziemlich öde aus. Hinter der westlichen Böschung kauerten die Gebäude des Harris College wie dunkle Pilze entlang der kahlen Allee. Südlich des College lag das, was einmal eine Stadt namens Harrisburg gewesen war. Im vorigen Jahrhundert hatte es mit Deer Lake konkurriert, was Handel und Bevölkerungszahl anging; aber letzteres hatte schließlich den Zuschlag für die Eisenbahn bekommen und den Titel Bezirkshauptstadt. Harrisburg verwaiste langsam, wurde schließlich annektiert und mußte es sich jetzt gefallen lassen, Dinkytown (= Bilderbuchland) genannt zu werden.
Megan parkte und zuckte zusammen, als der Motor des Lumina beim Abstellen klopfte und klapperte, bevor er verstummte. Vielleicht würde ihr das Bureau einen besseren Wagen zugestehen, wenn es ihr gelang, diesen Fall zu lösen. Wenn sie es schaffte, würde vielleicht ein kleiner Junge in der halbfertigen Schneeburg auf dem vorderen Rasen der Kirkwoods bald weiterspielen.
Hannah Garrison öffnete selbst die Haustür, sie sah sehr müde und angespannt aus. Angetan mit einem ausgebleichten Duke-Sweatshirt, marineblauen Leggins und dicken Wollsocken gelang es ihr dennoch, das Ganze mit einem Hauch von Eleganz zu tragen.
»Agent O’Malley«, sagte sie, und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen bei dem Gedanken, was Megans Anwesenheit auf ihrer Schwelle bedeuten könnte. Sie klammerte sich so heftig an die Tür, daß ihre Knöchel weiß wurden. »Haben Sie Josh gefunden?«
»Nein, tut mir leid. Aber vielleicht haben wir eine Spur. Jemand hat möglicherweise gesehen, wie Josh Mittwoch abend in einen Van stieg. Darf ich hereinkommen? Ich würde gerne mit Ihnen und Ihrem Mann reden.«
»Ja, natürlich.« Hannah machte den Eingang frei. »Ich muß Paul festhalten. Im Moment wollte er sich wieder an der Suche beteiligen.«
Megan trat ein und schloß die Tür hinter sich. Sie folgte Hannah in gebührendem Abstand, so daß sie alles beobachten konnte.
Im Wohnzimmer knisterte ein Feuer im Natursteinkamin, mit Glastüren und einem Funkenschirm zum Schutz des Babys, das auf dem Rücken eines riesigen Plüschhundes döste. Im Fernseher, der in einen kirschfarbenen Schrank eingebaut war, lief die Today -Show. Katie Couric piesackte Bryant Gumbel, Willard Scott lachte im Hintergrund wie ein Narr. Eine zierliche Frau mit großen braunen Augen und aschblondem Pagenschnitt brachte sie mit der Fernbedienung zum Schweigen und sah Megan erwartungsvoll an.
»Kann ich etwas für Sie tun«, fragte sie diskret. »Ich bin Karen Wright, eine Nachbarin, und hier, um Hannah zu helfen.«
Megan lächelte flüchtig. »Nein, danke. Ich muß mit Mr. und Mrs. – äh, mit Mr. Kirkwood und Dr. Garrison sprechen.«
Karen demonstrierte Mitgefühl. »Schwierig, nicht wahr? Früher ging es einfacher, als wir noch nicht so liberal waren.«
Megan brummte etwas Nichtssagendes und suchte die Küche auf, wo sich Curt McCaskill soeben eine Tasse Tee eingoß und die Star Tribune las. Der Agent riß theatralisch den Kopf hoch.
»He, O’Malley, ich hab grade über dich gelesen. Hast du wirklich einen Kinder-Pornoring geknackt, als du bei der Sitte warst?«
Megan ignorierte die Frage und überflog den Artikel, der auf dem Tisch ausgebreitet lag. Weiblicher Agent kämpft gegen Verbrechen und mittelalterliche Vorurteile. Henry Foster hatte das verzapft, dieser Affenpinscher. »Du lieber Himmel, DePalma kriegt die Motten, wenn er das sieht!«
Der Artikel schilderte ihre Laufbahn und ihren Kampf um einen Außendienstposten im Bureau. Sie wurde nicht wörtlich zitiert, aber diverse ›Quellen im Bureau‹ hatten ein paar
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