Deer Lake 02 - Engel der Schuld
kniete neben dem Stuhl der Frau und bot ihr Kleenex und Mitgefühl an. Auch ihre Augen waren rot und voller Tränen. Und mittendrin stand Rudy und sah aus wie der Kapitän eines sinkenden Schiffes.
»Das ist ein absoluter Alptraum«, sagte er und starrte Ellen so wütend an, als wäre es ihre Idee gewesen, Dustin Hollomans Leiche wenige Stunden vor der Anhörung an einem öffentlichen Ort abzuladen. »Bill Glendenning hat mich zu Hause angerufen und eine Erklärung verlangt. Er sagt, vom Standpunkt seines Büros aus scheint es, als hätten Sie die Kontrolle über die Lage total verloren, Ellen.«
Sie, nicht wir, registrierte Ellen auf dem Weg in ihr Büro. Rudy folgte ihr. Er war bereit, alle Bande zu zertrennen und ihr die Schuld zu geben, um seinen Hintern und seine Aussicht auf den Richterstuhl zu retten. Sie fuhr ihn an.
» Ich habe die Kontrolle verloren? Ich hatte nie die Kontrolle! Ich mußte eine Anklage aufbauen, und das habe ich getan. Ich bin nicht allmächtig. Wenn ich die Kontrolle hätte, wäre nichts von alldem je passiert!«
»Sie wissen, was ich meine!«
»Ja, das weiß ich genau.« Es scherte sie nicht, daß Quentin Adler unmittelbar hinter ihm in der Tür stand und jedes Wort verschlang, damit er es später in der Teeküche wieder aussprechen konnte. »Sie haben sich diesmal wirklich in die Ecke manövriert, nicht wahr, Rudy? Sie haben mir diesen Fall aufgehalst, weil Sie nicht den Mumm hatten, ihn selbst zu übernehmen. Und jetzt?« fragte sie. »Da sei Gott vor, daß Sie sich das Beweismaterial ansehen, das wir gegen Garrett Wright haben, und mich unterstützen.«
»Ich habe Sie in dieser Sache von Anfang an unterstützt, Ellen«, sagte er entrüstet. »Ich habe Ihnen mein volles Vertrauen geschenkt. Ich habe Ihnen freie Hand gelassen.«
Er hatte ihr reichlich Leine gegeben und insgeheim gehofft, sie würde sich damit strangulieren, aber erst, wenn er außer Reichweite ihrer um sich tretenden Füße war. Er hatte sich bei all seinen hinterhältigen Szenarien nie etwas so Schreckliches wie die neueste Entwicklung in diesem Fall träumen lassen. Wenn er sich jetzt von ihr lossagte, würde er schwach erscheinen. Wenn er sie unterstützte und sie versagte, würde sie die volle Wucht der Kritik abbekommen, aber die Konsequenzen würden ihn treffen; seine Fähigkeit, Entscheidungen zu fällen, würde in Frage gestellt werden. Seine Qualifikation als Richter würde in Frage gestellt werden. Er konnte fast fühlen, wie die Robe ihm aus den Händen glitt.
»Muß ich Sie daran erinnern, daß Mitch Holt Garrett selbst erwischt hat?« fragte Ellen. »Er ist schuldig.«
»Nicht an der Ermordung des Holloman-Jungen.«
»Das ist nicht der Fall, der heute zur Anhörung kommt. Aber keine Sorge, Rudy, wenn der an die Reihe kommt, stehe ich in vorderster Front. Ich will die Haut dieses Dreckskerls an die Wand nageln und seine Knochen als Zahnstocher benutzen. So, wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden«, sagte sie und drängte ihn rückwärts hinaus in den Korridor. »Ich habe eine Schlacht zu schlagen.«
»Erheben Sie sich. Das Gericht tagt. Den Vorsitz führt der ehrenwerte Richter Gorman Grabko.«
Der Gerichtsdiener ließ den Hammer noch einmal heruntersausen, als die lärmende Menge aufstand. Jay beobachtete, wie Richter Grabko mit theatralischer Würde aus seinem Zimmer kam, den kahlen Kopf auf Hochglanz poliert, den Bart frisch getrimmt. Eine graugestreifte, angemessen dezente Fliege thronte über dem Ausschnitt seiner Robe. Er kletterte auf seinen hohen Stuhl und setzte sich ruhig und würdevoll, dann arrangierte er seinen Aktenstapel zu seiner Zufriedenheit, bevor er den Blick auf den versammelten Mob richtete, der Schulter an Schulter den Gerichtssaal füllte.
Jay folgte den Augen des Richters, versuchte, sich die Szene aus Grabkos Blickwinkel vorzustellen. Die Tische von Staatsanwaltschaft und Verteidigung, Paul Kirkwood, der mit säuerlicher Miene in der ersten Reihe saß. Rudy Stovich direkt neben ihm, sein geöltes Haar stand auf einer Seite ab wie eine lockere Dachschindel. Er würde Mitch Holt in Anzug und Krawatte sehen und Megan O'Malley, die noch die häßlichen Male des Überfalls trug – Blutergüsse, die jetzt die Farbe von Granatäpfeln und Pflaumen hatten. Stiche, die wie ein Tausendfüßler über ihre Unterlippe krochen.
Die Abordnung des Harris College hatte sich auf der anderen Seite des Durchgangs versammelt, hinter dem Tisch der Verteidigung. Christopher Priest und der
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