Das Matarese-Mosaik
Prolog
I n den Wäldern von Tscheljabinsk, etwa neunhundert Flugmeilen von Moskau entfernt, steht eine früher einmal von der Herrscherelite der Sowjetunion hochgeschätzte Jagdhütte. Es handelte sich um eine das ganze Jahr über nutzbare Datscha, im Frühling und Sommer ein Paradies von Gärten und Wildblumen am Rande eines Bergsees, im Herbst und Winter ein Paradies für Jäger. Die neuen Herrscher hatten sie in den Jahren seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums in Ruhe gelassen, und sie war zu einer Art letzter Ruhestätte für den angesehensten Wissenschaftler Rußlands geworden, einen Kernphysiker namens Dimitrij Juri Juriewitsch. Denn er war ermordet worden, in eine monströse Falle gelockt von Killern, die für sein Genie, das er mit allen Nationen teilen wollte, keinen Respekt, nur Wut und Zorn übrig hatten. Ganz gleich woher die Mörder kamen, und niemand wußte das wirklich: Sie waren die Bösen und sicherlich nicht ihr Opfer, trotz der tödlichen Implikationen seiner Wissenschaft.
Die weißhaarige alte Frau mit dem schütteren Haar lag auf dem Bett am Erkerfenster, das den Blick auf den ersten Schnee des Winters freigab. Ebenso wie ihr Haar und ihre runzlige Haut war alles hinter dem Glas weiß, gefrorene neue Reinheit vom Himmel, unter deren Gewicht sich die Zweige beugten, ein Paradies blendenden Lichts. Mit einiger Mühe griff sie nach der Messingglocke auf ihrem Nachttisch und schüttelte sie.
Kurz darauf trat eine kräftige Frau Anfang vierzig mit braunem Haar und lebhaften, fragend blickenden Augen zur Tür herein. »Ja, Großmutter, was kann ich für dich tun?« fragte sie.
»Du hast schon mehr für mich getan als nötig, mein Kind.«
»Ein Kind bin ich wohl kaum noch, und du weißt genau, daß es nichts gibt, was ich nicht für dich tun würde. Soll ich dir Tee bringen?«
»Nein, aber hol mir einen Priester – egal, was für einen. Die waren uns so lange nicht erlaubt.«
»Du brauchst keinen Priester, du brauchst etwas Ordentliches zu essen, Großmutter.«
»Mein Gott, du klingst wie dein Großvater. Immer widersprechen, immer analysieren …«
»Ich habe überhaupt nicht analysiert«, fiel ihr Anastasia Juriskaja Solatow ins Wort. »Du ißt wie ein Spatz!«
»Die essen wahrscheinlich jeden Tag soviel, wie sie wiegen … Nicht, daß es wichtig wäre, aber wo ist dein Mann?«
»Draußen, jagen. Er sagt, im frischen Schnee kann man gut Spuren verfolgen.«
»Wahrscheinlich wird er sich den Fuß abschießen. Außerdem brauchen wir kein Fleisch. Moskau ist großzügig«, sagte die alte Frau.
»Das gehört sich wohl auch so!«
»Nein, meine Liebe. Das tun sie, weil sie Angst haben.«
»Was willst du damit sagen, Maria Juriskaja?«
»Hol mir den Priester, mein Kind. Ich bin siebenundneunzig Jahre alt, und jemand muß die Wahrheit erfahren. Geh jetzt!«
Der ältere russisch-orthodoxe Prälat in seinem schwarzen Ornat stand am Bett. Er kannte die Anzeichen; er hatte sie nur zu oft gesehen. Die alte Frau lag im Sterben, ihre Atemzüge wurden immer kürzer, schienen ihr immer mehr Mühe zu bereiten. »Ihre Beichte, gute Frau?«
»Nicht meine, Sie Esel !« erwiderte Maria Juriskaja. »Es war an einem Tag ganz wie diesem – es lag Schnee, die Jäger waren bereit, hatten die Flinten über der Schulter. Er ist an einem Tag wie diesem getötet worden, zerfetzt, zerrissen von einem verwundeten Bären, den Wahnsinnige ihm über den Weg getrieben hatten.«
»Ja, ja, wir alle haben die Geschichte Ihres tragischen Verlusts gehört, Maria.«
»Zuerst hieß es, es seien die Amerikaner gewesen, und dann die Kritiker meines Mannes in Moskau – selbst seine eifersüchtigen Konkurrenten, aber das stimmt nicht.«
»Es ist solange her, gute Frau. Bleiben Sie ruhig. Der Herr erwartet Sie. Er wird Sie an seinen Busen drücken und Sie trösten …«
» Guwno , Sie Narr! Die Wahrheit muß heraus. Ich habe später erfahren – Anrufe aus der ganzen Welt, nichts Schriftliches, nur Worte über die Telefonleitung -, daß ich und meine Kinder und deren Kinder nie die nächste Morgendämmerung erleben würden, wenn ich irgend jemandem von dem, was mein Mann mir erzählt hat, auch nur ein Wort sagen würde.«
»Und was war das, Maria?«
»Mein Atem verläßt mich, Vater, das Fenster wird dunkel.«
»Was war es?«
»Eine Macht, die viel gefährlicher ist als all die miteinander zerstrittenen Machtgruppen auf dieser Erde.«
»Was für eine ›Macht‹, gute Frau?«
»Die Matarese … das Böseste,
Weitere Kostenlose Bücher