Sirenenfluch
Kapitel 1
Aus der Shelter Bay Gazette
Shelter Bay rüstet sich für Sturm
Mit Windgeschwindigkeiten von gut 80 Kilometern pro Stunde und Wellen bis zu einer Höhe von sechs Metern wird Wirbelsturm Bonita voraussichtlich am Mittwochnachmittag gegen 15 Uhr Ostküstenzeit Shelter Bay erreichen. In manchen Gegenden werden die Einwohner dringend aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen, doch viele weigern sich. »Wir auf Long Island haben keine Angst vor ein bisschen Regen!«, so Harry Russel, Inhaber von Russel Haushaltswaren.
Bei diesem Sturm muss jedoch mit weitaus Schlimmerem gerechnet werden. »Bislang hat Bonita zwar nicht die Stärke eines Hurrikans erreicht, doch er wird ohne Zweifel reichlich Schaden anrichten. Nur weil er scheinbar nicht so gewaltig ist wie der Hurrikan von 1938, heißt das nicht, dass wir ihn auf die leichte Schulter nehmen sollten«, warnt Dr. Phyllis Ovid. Der sogenannte Long Island Express von 1938, bei dem 700 Menschen ums Leben kamen und 63.000 ihre Häuser verloren, wird als eine der größten Naturkatastrophen in der Geschichte der Vereinigten Staaten bezeichnet. »Selbst wenn Bonita nicht solche verheerenden Ausmaße annimmt«, so Dr. Ovid, »sollten sich die Menschen auf mehrtägige Stromausfälle einstellen.«
Und in der Tat scheinen sich die Einwohner von Shelter Bay bereits auf das Schlimmste gefasst zu machen. Sheila Danbury, Inhaberin des Pick and Drive- Supermarkts auf der King Road sagte unserem Reporter: »Unsere Regale sind absolut leer gekauft. Ich glaube, mehr als fünf Dosen Suppe sind nicht übrig.«
Die lokalen Sicherheitsbehörden empfehlen den Bewohnern, die Fenster zu vernageln, die Badewannen mit Wasser zu füllen und …
Will saß im Pick-up seines Onkels und kam nur mühsam auf der rutschigen Straße voran. Dicke Regentropfen prasselten erbarmungslos auf die ausgeblichene orangefarbene Motorhaube nieder, sammelten sich auf der Erde zu tiefen Pfützen und umspülten die Reifen, um dann zu den ohnehin schon völlig verstopften Gullys zu fließen. Unermüdlich kämpften die Scheibenwischer gegen die Wassermassen an, die die Windschutzscheibe hinunterströmten. Will kniff die Augen zusammen, um die Straße vor sich besser erkennen zu können. Es war jetzt zehn Uhr morgens und der Regen nahm stündlich zu. Er drehte am Radio herum, aber statt eines Senders bekam er lediglich ein Rauschen herein. Na, wenigstens spielen die Reifen bei dem Wetter mit, dachte Will. Der Truck seines Onkels war ein uralter Panzer: robust wie ein Felsbrocken und technisch in etwa genauso gut ausgestattet. Das Befestigungsseil für das Boot schleifte hinter dem Truck her wie ein lahmes Bein.
Obwohl außer ihm niemand bei diesem Wetter auf den Straßen unterwegs war, hielt Will an der roten Ampel an. Er war ein sehr umsichtiger Fahrer, worüber sich sein älterer Bruder Tim stets lustig gemacht hatte: »Das interessiert doch echt keinen, ob du zehn Kilometer pro Stunde schneller fährst als erlaubt«, hatte er immer gesagt. »Jetzt komm schon, Brüderchen, drück mal ordentlich auf die Tube!« Aber da Tim an diesem Morgen nicht dabei war, konnte Will so vorsichtig fahren, wie er wollte. Er hatte nicht vor, auf dem Weg zum Hafen noch einen Unfall zu bauen.
Die Ampel schaltete auf Grün und Will fuhr langsam an, doch eine Sekunde später trat er plötzlich mit voller Wucht auf die Bremse. Ein Stück Wellblech, das der Sturm wahrscheinlich von irgendeinem Schuppen heruntergeweht hatte, prallte seitlich gegen den Pick-up und verdunkelte einen Moment lang das Fahrerfenster.
»Großer Gott!«, wisperte Will mit klopfendem Herzen. In diesem Moment drehte der Wind, erfasste das Wellblech und wehte es über die Motorhaube und die Straße entlang. Will starrte ihm hinterher, sah, wie es durch die Luft gewirbelt wurde, zu Boden fiel und schließlich unter der Rathaustreppe verschwand.
Will stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und gab sachte Gas.
»Verdammt!«, schrie er, als vor dem Wagen plötzlich eine Gestalt auftauchte. Mit aller Kraft trat er das Bremspedal durch, wobei sich sein rechtes Bein schmerzhaft verkrampfte. Es gab einen dumpfen Aufprall und Will spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Er brauchte einen Moment, bevor ihm klar wurde, dass nicht er die Gestalt gerammt hatte, sondern sie ihn. Leuchtend grüne Augen starrten ihn durch die Windschutzscheibe an. Die Hände des Mädchens lagen fest auf der Motorhaube, so, als wollte es den Wagen an Ort und Stelle
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