Delia 2 - Delia und der Sohn des Haeuptlings
stellte sich auf, legte die Hand vor die Augen.
„Was siehst du?“ rief Delia, aber sie wartete seine Antwort nicht ab. Sie zog die Beine an, kniete sich zuerst und stellte sich dann aufrecht hin. So hatte sie es gelernt, als sie auf ihrer Flucht nach Hamburg eine kurze Zeit mit Zirkusleuten herumgezogen war. Sie brachte das Kunststück sogar auf einem trabenden Pferd fertig.
Endlich stand sie hoch oben auf dem Sattel und blickte weit über die Prärie. Sie sah Scharen und Scharen von Indianern, die langsam, in einer langen Reihe, durch das hohe Gras und auf das Fort zupirschten. Die glitzernden Federn, die schreienden Farben, mit denen sie ihre Oberkörper bemalt hatten, schimmerten im Mondschein. Das Unheimliche aber war, dass kein Laut zu hören war.
„Lieber Gott, steh Linda bei und allen, die im Fort sind!“ betete Delia leise.
„Tapferes Eichhörnchen und Junger Adler haben alles getan, um sie zu retten“, sagte der Indianerjunge, „Wir haben unsere Freiheit und unser Leben aufs Spiel gesetzt!“ Er ließ sich rittlings in den Sattel plumpsen.
Delia folgte seinem Beispiel, wenn auch erheblich vorsichtiger. „Ich muss Akitu danken“, sagte sie. „Akitu hat Tapferes Eichhörnchen nicht im Stich gelassen!“
„Und Tapferes Eichhörnchen hat Akitu befreit. Darüber ist nichts zu reden. Es ist so, wie es sein muss.“ Er schlug seinem Pferd die Hacken in die Flanken, setzte es in Gang.
Wenn die Weißen bloß wüssten, dachte Delia, in wie vielen Dingen die Indianer ihnen überlegen sind. Ja, wir bemühen uns auch, anständig zu sein, aber für uns ist jede anständige Tat rühmenswert. Für die Indianer sind Anstand, Treue, Tapferkeit und Vertrauen einfach selbstverständlich.
Der Mops richtete sich vor ihr auf den Hinterbeinen auf und fuhr ihr mit der rauen Zunge über das Kinn. „Ja, du auch“, sagte Delia, „du bist auch ein fabelhafter kleiner Indianer!“
Sie musste plötzlich lachen. Alle schweren Gedanken, alle Sorgen und Überlegungen fielen von ihr ab. Sie spürte ganz stark, dass sie jung war, gesund und frei wie ein Vogel in der Luft. Ein Leben voll herrlicher Abenteuer lag vor ihr, und eines Tages, dessen war sie ganz sicher, würde sie ihren Vater wiederfinden, eines Tages würde die ganze Familie, Vater, Mutter und die Schwestern, wieder beisammen sein, geborgen und glücklich.
Laut jubelte Delia voll Übermut. Der Professor stimmte mit fröhlichem Gebell ein, sprang vom Sattel und raste hin und her in dem hohen Gras.
Akitu stieß den wilden, langgezogenen Triumphschrei der Iowanokas aus, und nebeneinander preschten sie — Delia und Akitu auf ihren Pferden, der Mops auf seinen vier kurzen Beinen — dem Urwald zu, neuen Abenteuern entgegen.
Coverillustration: Anette Vogt, iStockphoto/Svetlana Alyuk
Kapitelaufmacher: DogArts – Fotolia.com
Marie Louise Fischer:
Delia und der Sohn des Häuptlings
Stuttgart 2013
ISBN 978-3-944561-08-0
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