Delirium
stetige, ewige Ãchzen des Wassers, als die Flut zurück in die Bucht strömt â es ist immer da, spült alles hinweg, verwandelt alles in Staub. »Wir können es noch schaffen!«
»Hör zu.« Er schreit nicht, aber irgendwie kann ich ihn trotzdem verstehen. Es ist, als spräche er mir direkt ins Ohr, obwohl er immer noch mit erhobenen Armen dasteht. »Wenn ich dir sage, los, fährst du los. Du musst dieses Ding fahren, okay?«
»Was? Ich kann nicht â¦Â«
»Bürgerin 914â238â619â3216. Steigen Sie ab und nehmen Sie die Hände über den Kopf. Wenn Sie nicht sofort absteigen, müssen wir schieÃen.«
»Lena.« Die Art, wie er meinen Namen sagt, lässt mich verstummen. »Sie haben den Zaun unter Strom gesetzt. Er ist an.«
»Woher weiÃt du das?«
»Hör mir einfach zu.« Verzweiflung und Angst kriechen in Alexâ Stimme. »Wenn ich âºlosâ¹ sage, fährst du los. Und wenn ich âºspringâ¹ sage, springst du. Du wirst es über den Zaun schaffen, aber du hast nur dreiÃig Sekunden, bevor der Strom wiederkommt, allerhöchstens eine Minute. Du musst so schnell wie möglich rüberklettern. Und dann rennst du, okay?«
Mein ganzer Körper wird eiskalt. »Ich? Und was ist mit dir?«
Alexâ Miene verändert sich nicht. »Ich bin direkt hinter dir«, sagt er.
»Sie haben zehn Sekunden ⦠neun ⦠acht â¦Â«
»Alex â¦Â« Eisige Finger strecken sich aus meinem Magen aus.
Alex lächelt â nur das allerkleinste Lächeln, als wären wir bereits in Sicherheit, als würde er sich gleich vorbeugen, um mir die Haare aus den Augen zu streichen oder mich auf die Wange zu küssen. »Ich verspreche dir, dass ich direkt hinter dir sein werde.« Sein Gesichtsausdruck wird wieder ernst. »Aber du musst schwören, nicht zurückzublicken. Auch nicht eine Sekunde. Okay?«
»Sechs ⦠fünf â¦Â«
»Alex, ich kann nicht â¦Â«
»Schwör es, Lena.«
»Drei ⦠zwei â¦Â«
»Okay«, sage ich und ersticke beinahe an dem Wort. Tränen lassen meinen Blick verschwimmen. Keine Chance. Wir haben keine Chance. »Ich schwöre.«
»Eins.«
In diesem Augenblick explodiert alles rund um uns herum, Salven aus Lärm und Feuer. Gleichzeitig schreit Alex: »Los!«, und ich beuge mich vor und drehe am Gasgriff, wie ich es bei ihm beobachtet habe. Ich spüre, wie er im letzten Moment die Arme um mich schlingt, und beinahe hätte es mich vom Motorrad gerissen, wenn ich den Lenker nicht so fest umklammert hielte.
Noch mehr Schüsse. Alex schreit auf und löst einen Arm um meine Taille. Ich drehe mich um und sehe, wie er sich den rechten Arm hält. Wir holpern auf die alte StraÃe und dort steht eine Reihe Wachen und wartet mit angelegten Gewehren auf uns. Sie schreien alle irgendetwas, aber ich kann sie gar nicht hören: Das Einzige, was ich hören kann, ist das andauernde Rauschen des Windes und das Summen der Elektrizität im Zaun, genau wie Alex gesagt hat. Hinter dem Zaun werden die Bäume in der Wildnis gerade im Morgenlicht grün, all diese breiten, flachen Blätter, die sich wie Hände nach uns ausstrecken.
Die Wachen sind jetzt so nah, dass ich einzelne Gesichter erkennen, einzelne Mienen ausmachen kann: gelbe Zähne bei einem, eine groÃe Warze auf der Nase eines anderen. Ich halte nicht an. Wir rasen auf unserem Motorrad zwischen ihnen durch und sie weichen zurück und springen auseinander, um nicht überfahren zu werden.
Der Zaun ragt vor uns auf: noch fünf Meter, noch drei, noch anderthalb. Ich denke: Wir werden sterben.
Dann Alexâ Stimme, klar und kräftig und unglaublich ruhig, so dass ich mir gar nicht sicher bin, ob ich ihn wirklich höre oder mir nur einbilde, dass er mir die Worte ins Ohr spricht. Spring. Jetzt. Mit mir.
Ich lasse den Lenker los und rolle mich zur Seite, als das Motorrad nach vorn in den Zaun schlittert. Schmerz durchfährt jeden einzelnen Teil meines Körpers â meine Knochen werden von meinen Muskeln gerissen, meine Muskeln von meiner Haut â, während ich über spitze Steine kugele, Staub ausspucke, huste, mit Mühe Atem schöpfe. Einen Moment lang wird die Welt schwarz.
Dann ist alles Farbe und Feuer. Als das Motorrad auf den Zaun trifft, zerreiÃt ein enormes Dröhnen die Luft. Feuer steigt auf, riesige
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